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Die diabolische Gemeinheit des menschlichen Lebens besteht in der Allgegenwärtigkeit des Todes mitten im Leben. Das erleben wir alle gerade im Ukraine-Krieg. Deshalb ist dieser Krieg für mitfühlende und mitdenkende Menschen kaum auszuhalten und niemals entschuldbar.
„Sterben-müssen bei gleichzeitigem Leben-wollen ist eine Zumutung,“ ja „ein Skandal“, hat Elias Canetti immer wieder betont. Wie lässt sich diese Dialektik aushalten? Durch Religion? Nein, aber durch praktische und praktizierte Ethik, schreibt der Religionsführer Dalai Lama. Vielleicht deshalb die große Hilfsbereitschaft für aus der Ukraine Flüchtende in Deutschland.
Wir können viele Verbrechen verzeihen, aber kaum die Gemeinheiten eines Krieges. Das führt dann zu Aussagen wie der des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andreij Melnyk, gegenüber dem „Spiegel“: „Alle Russen sind gerade unsere Feinde.“ Der Krieg in der Ukraine ist Putins Krieg und nicht der Krieg aller Russen. Die allermeisten Menschen auch in Russland wissen und empfinden: Krieg ist die Krankheit und nicht die Lösung.
So hat es auch Michail Gorbatschow erst vor wenigen Monaten in einem Aufsatz der Zeitung „Russia Global Affairs“ geschrieben: „Keine Herausforderung oder Bedrohung, der die Menschheit im 21. Jahrhundert gegenüber steht, kann militärisch gelöst werden. Kein großes Problem kann von einem Land oder von einer Gruppe von Ländern im Alleingang gelöst werden.“ Im selben Artikel nennt Gorbatschow, der größte Abrüster aller Zeiten, als die wichtigsten politischen Aufgaben unserer Zeit: die Abschaffung aller Atomwaffen, die Überwindung der Armut und die Rettung des Weltklimas. Kriege verschärfen all diese Probleme anstatt sie lösen zu helfen.
Das Buch, das ich zusammen mit Michail Gorbatschow 2016 geschrieben habe, hat den aktuellen Titel: „Kommt endlich zur Vernunft – Nie wieder Krieg“. Gorbatschow war mit einer Ukrainerin verheiratet. Er nannte seine Raissa oft liebevoll „Meine Ukrainerin“. Solche Familienbande zwischen Russen und Ukrainern sind in beiden Nachbarländern zahlreich. Wir konnten uns 2016 nicht vorstellen, was wir 2022 erleben.
Gorbatschow damals: „Wir sind eine Menschheit auf einer Erde unter einer Sonne.“
Wirklicher Frieden könne nur erreicht werden „unter den Bedingungen demilitarisierter Politik und demilitarisierter internationaler Beziehungen. Politiker, die meinen, Probleme und Streitigkeiten könnten durch Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden, sollten von der Gesellschaft abgelehnt werden, und sie sollten die politische Bühne räumen“. Kein Wunder, dass Gorbatschow und Putin keine Freunde werden konnten.
Als ich Gorbatschow 2017 in Moskau einen Friedenspreis überreichen durfte, nannte er diese drei weltpolitischen Hauptaufgaben: „Abrüsten, abrüsten, abrüsten.“ Er meinte Russland und die NATO. Das meint er auch heute noch. Auf meine Frage nach der Gefahr eines Atomkriegs sagte er: „Ein Atomkrieg wäre der letzte Krieg der Menschheit, weil es danach keine Menschen mehr gäbe, die noch einen Krieg führen könnten.“ Das ist sein eigentliches Vermächtnis. Durch seine Bemühungen wurden in den 1990-iger Jahren etwa 80% aller Atomwaffen verschrottet.
Wer ist Stanislaw Petrow?
Gorbi hat 1990 den Friedensnobelpreis erhalten. Ein zweiter Russe , der diesen Preis verdient, aber bis jetzt nicht bekommen hat, ist Stanislaw Petrow, der in der Nacht zum 26. September 1983 wahrscheinlich die Welt vor einem Atomkrieg rettete. Der frühere Oberst der Sowjetarmee saß in jener Nacht an seinem Arbeitsplatz in der Nähe Moskaus. Seine Aufgabe war die Satelliten-Überwachung des Luftraums und die Beobachtung der US-Atomwaffen-Arsenale. Er sollte melden, wenn US-Atomraketen in Richtung Sowjetunion fliegen und dann den Gegenschlag starten. Dieses Horror-Szenario war damals so realistisch wie heute.
Am 26. September 1983 um 0.15 Uhr meldeten Petrows Computer: Fünf US-Atomraketen mit jeweils der zehnfachen Hiroshima-Sprengkraft fliegen auf die Sowjetunion zu und treffen das Land in 25 Minuten. Technisch-rational gemäß seinen Befehlen hätte Petrow den Gegenschlag auslösen müssen. Doch seine Intuition sagte ihm: „Da stimmt etwas nicht,“ erzählt er 15 Jahre später einem Fernsehteam des Magazins „Galileo“.
Der Film hat den Titel: „Der Mann, der den 3. Weltkrieg verhindert hat.“ Er erzählt, dass er in jener Nacht „nur Ersatzmann“ war, weil die Nachtschicht bei seinen Kollegen unbeliebt gewesen sei. Die Satteliten-Überwachung hatten Sonnenreflektoren auf Wolken fehlinterpretiert und das musste im Sowjetsystem 15 Jahre lang vertuscht werden. Er lebt heute verarmt in einer kleinen Moskauer Wohnung von einer bescheidenen Rente. Eine Friedensauszeichnung verlieh ihm 1998 die Stadt San Francisco im UNO-Gebäude in New York. Der Mann schrieb Weltgeschichte.
Jetzt hat Gorbatschows Nachfolger Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Ich mag mir kaum vorstellen, was der 91-jährige Gorbatschow, der in diesen Tagen mit Herzbeschwerden in einem Moskauer Krankenhaus liegt, dabei empfindet. Er meint: Sieger ist nicht, wer Schlachten gewinnt, sondern wer Frieden stiftet.