Foto: Elias Hassos
Tugendwächter in der Nachbarschaft sind nicht die Hüter ihres Bruders – sondern einsame Freizeitpolizisten. Sie möchten wichtig sein
19.09.2011

Sie lauern hinter Gardinen und Fensterscheiben, reißen urplötzlich Wohnungstüren auf oder begegnen einem über­raschend an der Mülltonne: selbst ernannte Tugendwächter. Sie schreiben penibel auf, wenn und wann sich jemand für ein paar Minuten im Halteverbot aufhält. Daraus wird dann eine präzise formulierte Anzeige samt selbst geschossenem Beweisfoto. Sie schreien erschreckte Kinder an, die sich nur mal die Fußabstreifer für eine Piratentour durchs Haus ausleihen wollen. Und sie werfen einen prüfenden Blick auf den Abfall, den man zu den Tonnen trägt. Ist da vielleicht nicht doch Glas unter dem Plastik oder Altpapier im Restmüll?

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Menschen sollen füreinander Verantwortung übernehmen und ein wachsames Auge darauf haben, was mit Kleinen und Großen in ihrem Umfeld geschieht. Wenn ein alter Herr auf offe­ner Straße angepöbelt wird oder wenn jeden Abend Schreie aus der Wohnung unter einem ertönen, dann ist es höchste Zeit, etwas zu unternehmen. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“, fragt Kain frech, als er seinen Bruder Abel erschlagen hat. Ja, wir sollen Hüter sein. Wenn unsere Mitmenschen Hilfe brauchen, ist es notwendig, selbst oder mit anderen zusammen einzugreifen, nach kurzer Überlegung Hilfe herbeizuholen oder sich an Polizei und Jugendamt zu wenden. Je nachdem, was einem der eigene Verstand vorgibt.

Was motiviert solche Leute zum Handeln?

Aber welchen Wert hat es, andere wegen jeder Kleinigkeit anzuschwärzen? Was sind das für Menschen, die ihren Lebenssinn darin entdecken, die Einhaltung der Kehrwoche zu kontrollieren und den Nachbarn zu verklagen, weil dessen Essigbaum unter dem Gartenzaun fröhlich durchwurzelt und im Herbst alle ­Blätter auf den eigenen Rasen abwirft? Die, mit denen ich bisher zu tun hatte, haben Lust an der Macht. Sie freuen sich darüber, dass sie anderen Schwierigkeiten bereiten können. Sie genießen die Kontrolle, die sie ausüben, das Gefühl, wichtig zu sein – auch wenn den Behörden solche Freizeitpolizisten ziemlich lästig sind.

Was tun? Man kann, das ist der bequemste Weg, alles unter­lassen, was solche Leute zum Handeln motiviert. Oder man kann sich mit ihnen anlegen: auf Kosten der eigenen Nerven und meist vergeblich. Man kann sich auch rächen wollen – ich kann gar nicht die Fantasien eines Freundes beschreiben, als er die fünfte Anzeige wegen Parkens im Halteverbot bekam. Nur weil er jedes Mal eilig Blumensträuße für liebe Menschen besorgte. Er hätte viel Unterstützung bekommen, denn der gar nicht geheime ­Ermittler meldet täglich an die Polizei, wen er alles ertappt hat... Aber will man sich auf so ein Niveau herabbegeben?

Es kann nur besser werden

Mein Freund hat es gelassen. Sich eine mögliche Rache auszumalen, hatte ausreichend psychohygienische Funktion. In einem Psalm heißt es: „Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend.“ (Psalm 25,16) Der, der das sagt, fühlt sich verlassen, kommt mit seiner Lebensgeschichte, mit seinem eigenen Versagen nicht zurecht und hat richtig Angst vor der Zukunft. Manchmal gelingt es, Menschen aus ihrer Isolation herauszu­holen und ihnen wirklich verantwortungsvolle Aufgaben zu geben: Auf dem Spielplatz der Kinder, die einen aufmerksamen Beschützer gut gebrauchen können, bei Diskussionen in der Jugendarbeit, bei Arbeiten in der gemeinsamen Gartenanlage, als Grillmeister beim Sommerfest der Kirchengemeinde.  

Wer versucht, einen Tugendwächter dazu zu motivieren, seine Talente zum Wohl aller einzusetzen, und damit wenigstens einmal Erfolg hat, der wird das erste zaghafte Lächeln nie vergessen. Ausprobieren. Es kann nur besser werden.

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"Spione hinterm Gartenzaun" - die kann ich jetzt verstehen! Ein notorischer Verkehrssünder, für den die StVO nicht zu gelten scheint und der hartnäckig die Verkehrsregeln missachtet. Nicht einmal, sondern gezielt und systematisch. Dabei dachte ich, nicht nur im Straßenverkehr gelte gleiches Recht für Alle! Aber nein, wenn man einen passenden Grund hat, kann man sich seine Regeln selbst machen. Nun muss ich das nur noch meinem 9-jährigen Sohn klar machen, der unlängst schwer im Straßenverkehr verunglückt ist. Er musste den Radweg verlassen und auf die Fahrbahn ausweichen, weil ein Auto den Radweg blockierte. Entschuldigung des Fahrers: "aber ich musste doch nur mal schnell was besorgen ...". Bestimmt für einen lieben Menschen, kann ich da ergänzen. Was ich nie gedacht hätte: Nun kann ich sie verstehen, die "selbst ernannten Tugendwächter". Gut, dass jemand aufpasst und Anarchisten im Straßenverkehr in ihre Schranken weist. Denn die schwächsten Verkehrsteilnehmer können sich nicht selbst schützen!
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Uwe Bauder (nicht überprüft) schrieb am 27. Oktober 2011 um 17:30: "Gut, dass jemand aufpasst und Anarchisten im Straßenverkehr in ihre Schranken weist." ---------------------- Gut für wen? Für den Erfolg der Staatsgewalt ist die Rechtsgesinnung der Bürger samt zugehörigem Denunziantentum auf jeden Fall ein Pluspunkt. Für die Einnahmen diverser öffentlicher Hände aus Verwarngeldern sind die eifrigen, unbezahlten Hilfssheriffs bisweilen auch nicht schlecht. Radelnde Neunjährige bräuchten allerdings ziemlich was anderes, nämlich sichere Radwege. Die werden nicht dadurch geschaffen, dass zunächst keine Parkplätz vorhanden sind, dann die Radwege mit Autos vollgeparkt werden und schließlich reichlich Verwarnungszettel unter die Scheibenwischer geschoben werden.
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Im Oktoberheft zieht Frau Breit-Keßler gegen sog. "Tugendwächter" kräftig vom Leder; sie hat insoweit Recht, als diese keiner so recht mag. Doch sind ihre aufgeführten Beispiele wenig überzeugend.
Sie erzählt von "erschreckten Kindern, die sich nur mal die Fußabstreifer für eine Piratentour durchs Haus ausleihen wollen". Offensichtlich hat sie volles Verständnis dafür und rechnet wohl auch fest damit, daß die Kinder, sobald das Spiel keinen Spaß mehr macht, die Fußabstreifer wieder zurückbringen. Diese Kinder möchte ich sehen! Die Fußabstreifer landen irgendwo - man darf sie suchen  und zwischendurch streifen Besucher ihre Schuhe sonstwo ab. Anrührend die Geschichte von dem Freund, der nur mal schnell für "liebe Menschen " (Achtung, es menschelt!) Blumen besorgen will und zu diesem äußerst wichtigen Geschäft unbekümmert sein Auto im Halteverbot abstellt, was macht man nicht alles für "liebe Menschen"! Hat dieser Freund nicht genügend Verstand, einzusehen, daß das Halteverbot auch für ihn gilt? Nach der dritten Anzeige sollte er doch langsam zu dieser Erkenntnis gekommen sein. Liebe Frau Breit-Keßler, für Ihre nächste Strafpredigt wählen Sie doch bitte geeignetere Beispiele aus.
P. S. Ich habe weder verschreckte Kinder angeschrien noch einen Falschparker angezeigt - allerdings habe ich manchmal das Bedürfnis danach, wenn ich feststelle, daß ein Behindertenparkplatz, den ich wegen meiner zu 100 Prozent behinderten Frau benötige, durch einen Falschparker besetzt ist.