Alles ist jetzt deins und meins und Ihrs. So viel Zuwendung auf einen Haufen ist ein ­bisschen unheimlich.
Tim Wegner
12.06.2013

Stellvertretende chrismon-Chefredakteurin Ursula Ott
Wer am Frankfurter Hauptbahnhof abends sein Fahrrad abstellt, findet es am nächsten Morgen mit einem Sattelschoner wieder. „Nasser Hintern?“ steht drauf, eine Werbeaktion von „Dein Bus“. Trockener Hintern ist prima. „Dein Bus“  nervt. Es handelt sich ja zweifellos um meinen Hintern. Aber doch nicht um meinen Bus? Oder habe ich da was verpasst?

Alles ist jetzt deins und meins und Ihres. Bis vor kurzem war es ja so: Wenn man eine Mail bekam mit dem Betreff „Dein Gewinn“ oder „Ihr Gutschein“, konnte man relativ sicher sein, dass es sich um einen Betrüger handelt. Oder um einen Virus. Neuerdings springt uns sogar jener Berufsstand per 2. Person Singular an, der uns vor echten Viren schützen soll. „Wir arbeiten für Ihr Leben gern“, steht auf den großen Imageplakaten der deutschen Kassenärzte. Tschuldigung, davon gingen wir ohnehin aus, hippokratischer Eid und so. Gibtʼs da ein Problem? Müssen wir da drüber reden?

So viel Zuwendung  auf einen Haufen, das ist ein bisschen unheimlich. Denn es wanzen sich per Possessivpronomen an uns heran: Ihr Friseurteam, Ihr Fahrradprofi, Ihr Wohlfühlhaus und Ihre Altersversorgung. Sowie Ihr Bürgerbüro der Stadt Neukirchen-Vluyn, Ihr Bürgeramt Wesendorf und Ihr Rathaus Erlensee. Alle wollen sie Nähe, wollen eine persönliche Beziehung herstellen. Hilfe!

Natürlich möchten die Bürgerin, der Friseurkunde und die Radfahrerin ganz individuell behandelt werden. Und die Patientin erst recht. Aber Nähe entsteht durch Taten, nicht durch Worte. Prima, wenn das Bürgerbüro und der Fahrradladen sich nach dem Bedarf moderner Bürger richten und einen Abend bis 20 Uhr öffnen. Schön, wenn der Orthopäde auch für Kassenpatienten einen schnellen Termin hat. Fühlt sich gut an, wenn wir, ganz persönlich, ernst genommen werden. Dann können wir auch zum Du und Ihr übergehen.  Alles andere geht mir an meinem Hintern vorbei.

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Ich lese Frau Otts Kolumne schon seit Jahren – manchmal fange ich weniger mit dem Thema an, manchmal mehr, das ist soweit wohl ganz normal. Womit ich aber zunehmend Probleme habe ist eine gewisse „Jammermentalität“, die ich so langsam leider unerträglich finde. Es ist unbestritten wünschenswert und wichtig, wirkliche Missstände beim Namen zu nennen und sich deutlich gegen diese auszusprechen, gerade Christen sind hier ganz sicherlich in der Verantwortung. Aber es gibt auch ein eine Art Meckerei über Nichtigkeiten, die den Eindruck vermitteln, da suchte jemand krampfhaft nach Themen für einen Artikel, und der Stil der Kolumne dürfe dabei auch keinesfalls geändert werden. Es muss irgendetwas gefunden werden, über das man sich ärgern und empören kann. Vor einer Weile war es das Schulsystem, welches Kindern anscheinend Chancen für die Zukunft verbaut, heute sind es Formulierungen von Werbeslogans, über die sich Frau Ott so ereifert, dass sie sich sogar zu der Aussage versteigt, etwas gehe ihr am Hintern vorbei. Gut, wenn man sonst keine Probleme hat, mag der Leser denken. Aber lesen möchte ich das nicht. Nicht, weil ich eine Frau und deshalb per se „lieber nett“ und auf Harmonie bedacht bin, wie ein Artikel auf der nächsten Seite unterstellt. Sondern deshalb, weil nicht alles zur Beliebigkeit verkommen darf. Ich möchte mir meine Kraft aufsparen für wirkliche Missstände, und für die journalistische Diskussion dieser Missstände muss dann auch genug Raum da sein, eine Kolumne ist dafür meiner Meinung nach ungeeignet und wird der Komplexität eines Themas nicht gerecht. Einfach ein bisschen in den Tag hineinjammern, beispielsweise über Fahrradsattelbezüge und den Aufdruck darauf, das ist mir zu billig. Oder zu teuer -  je nachdem, unter welchem Blickwinkel man es betrachtet. Meine ganz höflich gemeint und formulierte Bitte: Die Kolumne in dieser Form in die endgültige Ablage, bitte.