So riecht für uns Fußball. Waffeln, Wienerle und Frikadellen, Kartoffelsalat und Nutella-Brötchen schon bei dem Gedanken an diese Mischung macht der Magen einen Fallrückzieher. Kaffeeschwaden schwängern die stickige Luft in der Turnhalle, aus dem Rucksack auf der Bierbank neben uns steigt säuerlicher Schweißdunst auf. Es ist Sonntag, halb neun Uhr morgens. Normalerweise würden wir uns um diese Zeit noch einmal in die Federn kuscheln und den Tag langsam angehen lassen. Stattdessen haben wir den Wecker auf halb sieben gestellt, eine Stunde später ist Mannschaftstreffen auf dem Parkplatz vor dem Sportverein. Kurze Lagebesprechung, Wegbeschreibung. Dann zuckeln sechs Autos mit müden Fußballeltern und -jungs im Konvoi nach Neugraben-Fischbek.
"Raus, raus, weiter, weiter, weiter, hol ihn dir!"
Neugraben-Fischbek. Vor einigen Jahren hätten wir nicht einmal gewusst, wo das liegt. Seit wir Fußballeltern sind, erschließt sich uns Hamburg und sein reizvolles Umland an fast jedem Wochenende. Im Winter Hallenturnier in Halstenbek, Freundschaftsturnier in Farmsen, Punktspiel in Pinneberg, Staffelmeisterschaft in Sasel. Überall die gleichen Turnhallen mit Gummiboden, fahlem Neonlicht und zugigen Umkleideräumen. Vor den Türen treten aufgeregte Eltern von einem Bein aufs andere, noch schnell eine rauchen vor dem Anpfiff. Oben auf der Zuschauergalerie kämpfen die kleinen Geschwister in Papas Arm schon wieder mit dem Schlaf, wenn der Schiri endlich die Mannschaften aufs Feld ruft. So sieht ein sonntäglicher Familienausflug aus. Glück gehabt, hier gibt's Bierbänke. Sonst heißt es stehen. Im Sommer sowieso. Grantplätze, Rasenplätze, bei brütender Sonne, peitschendem Sturm, Dauerregen, Schneefall. Manchmal dauern die Spiele stundenlang. Dann rettet uns nur das erlesene Buffet aus Waffeln, Wienerle, Frikadellen...
"Ja, geh! Schön! Und geh und Schuss! Jaaa!"
Die Karriere als Fußball-Mama und -Papa beginnt schleichend, aber die ersten Warnzeichen blinken schon im Säuglingsalter des Kindes auf. "Ball" war sein erstes Wort, erzählt Ruth Meissner, Mutter von Robin. Sechs Jahre später kommt der Sohn auf über 300 Tore, und sein Ruf als Mozart des Fußballs schallt über die Dorfgrenzen hinaus. Mit neun Monaten fing Robin an zu laufen. Sobald er einen Fuß vor den anderen setzen konnte, wackelte er dem Ball hinterher und strahlte, wenn die größeren Nachbarjungen auf der Straße ihm Pässe zuspielten. Mit anderthalb stand er auf dem Grantplatz des Willinghusener Sportclubs und nahm das Tor ins Auge.
Keine große Überraschung für die Eltern. Lars Heinemann, Robins Vater, war als Jugendlicher selbst in die Hamburger Landesauswahl gekommen, Ruths Vater, Robins Opa also, hatte sich als Hobbyfußballer bis in die Kreisklasse gespielt. Das Talent lag in der Familie. Warum sollten sie es nicht fördern? Nach Feierabend oder an den Wochenenden zog Lars Heinemann mit dem Sohn auf den Rasenplatz und übte das Dribbeln. Robin schlief mit seinem Fußball ein und drückte sich die Nase am Geländer des Sportplatzes platt, wenn die Älteren trainierten. Kurz vor seinem dritten Geburtstag durfte er dann endlich selber ran in der Pampers-Liga. Seitdem kennen auch Ruth Meissner und Lars Heinemann alle Turnhallen und Sportplätze im Umkreis von 50 Kilometern.
Wir Fußballeltern werden gebraucht. Wir chauffieren unsere Kinder zu jedem Spiel, egal wie weit, egal wann. Wir waschen alle drei Wochen etliche blau-gelbe und ein schwarzes Trikot und legen sie wieder ordentlich zusammen. Wir backen Waffeln und grillen Würstchen, schmieren Nutella-Brötchen und schnipseln Kartoffelsalat. Wir laufen vom Burgerbrater zum örtlichen Schreibwarengeschäft, um Schirmmützen und Kugelschreiber für die Tombola des Vereins zusammenzubetteln. Wir kümmern uns um die richtige Ernährung und folgen den peniblen Anweisungen des Trainers. "Zum Mittagessen vor dem Spiel dürfen nur Nudeln serviert werden", erzählt Ruth Meissner. "Als ich einmal Schinken in die Nudelsauce gegeben hatte, hat Robin das Essen abgelehnt. Wir muss-ten den Trainer anrufen mein Sohn hatte Recht. Seitdem achten wir auf eine reine Kohlehydrat-Mahlzeit."
Ernährungsexperten, Psychologen, Ärzte, das alles sind Fußballeltern. Wir riskieren blaue Flecken, wenn unser Zehnjähriger uns hautnah nach dem Spiel noch einmal vorspielen muss, wie die Nummer 10 aus der gegnerischen Mannschaft ihn mit einer Blutgrätsche ausgeschaltet hat. Wir kühlen Beulen mit Eisbeuteln, pflastern Schürfwunden und balsamieren die Seele eines Sechsjährigen, der den Schiedsrichter "verfickt ungerecht und überhaupt parteiisch" findet. Dass ein Jürgen Klinsmann uns "Zombies" nennt, das haben wir nun wirklich nicht verdient.
"Ran! So, jetzt ran. Und noch mal, jawoll! Schade!"
Eltern führten sich wie Fußball-Zombies auf, klagte der Bundestrainer schon vor der letzten WM bei der Stiftung Jugendfußball, "wenn sie versuchen, durch das Fußballspielen der Kinder ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Ich habe es nicht gepackt, aber mein Kleiner wird es schaffen, wenn ich ihn nur richtig heiß mache. Das Ergebnis ist, dass die meisten Nachwuchsspieler schon mit 14 oder 15 verheizt sind. In der B- und A-Jugend, also zwischen 14 und 18 Jahren, hat der organisierte Fußball eine Ausstiegsquote von 6o Prozent. Wenn auf einen Achtjährigen beim Fußball Druck ausgeübt wird, wird er als Zwanzigjähriger niemals sein Potential erreichen. Zu viel Druck tötet Talent und Spielwitz."
Druck, wieso Druck? Wovon redet der Mann? Selbstverständlich feuern Fußballeltern ihre Kinder an. Natürlich suchen wir das beste Fußballcamp aus dem Internet, um dem Sohn auch in den Ferien optimale Förderung angedeihen zu lassen. Klar notieren wir die Ergebnisse und kaufen eine Vitrine für die Pokale. Hat Klinsmanns eigener Papa, Siegfried, nicht damals, als der Sohn beim TB Gingen spielte, alle Ergebnisse säuberlich in ein Buch eingetragen und ihm obendrein noch den Wahlspruch hineingeschrieben: "Olympisch sein heißt: Ehrlich im Kampf, bescheiden im Sieg, neidlos in jeder Niederlage und sauber in deiner Gesinnung"? Bitte schön! Heute heißt das wohl eher: Wenn du gefoult wirst, wehr dich, aber pass auf, dass der Schiri das nicht sieht. Aber sonst halten wir uns mit unseren Ratschlägen und auch mit unseren Emotionen zurück. Wir mischen uns nicht ein, selbst wenn unser Sohn schon wieder auf der Ersatzbank sitzt und erst in den letzten drei Minuten eingewechselt wird. Wenn das allerdings so bleibt, werden wir ernsthaft über einen Vereinswechsel nachdenken.
"Noch eine Minute! Auf geht's. Und los, richtiiiiich..."
"Die meisten Eltern sehen sich nicht als ehrgeizige Antreiber, sondern als engagierte und fürsorgliche Begleiter ihrer Kinder", erklärt Guido Francescon, Bildungsreferent der Sportjugend Hessen. "Talent zu fördern ist ja erst einmal nichts Schlimmes." Doch dass Mütter oder Väter für ihre Kinder und vor allem auch für deren meist ehrenamtliche Trainer manchmal ein Problem werden können, davon zeugen die vielen Gebotstafeln, die Fußballvereine verfasst und zur geflissentlichen Lektüre ins Internet gestellt haben. Da wimmelt es nur so von Ausrufezeichen: "Überlasst das Training den Trainern! Bestraft euer Kind nicht mit Liebesentzug, wenn es schlecht spielt! Unterstützt und feuert alle Spieler der Mannschaft an! Bietet keine Belohnungen oder Bestechungen an! Ermuntert euer Kind, mit dem Trainer zu reden! Unterlasst abfällige Äußerungen während des Spiels, setzt die Gegner nicht herab! Das Fußballspiel gegen andere Mannschaften sollte nur einer momentanen Standortbestimmung dienen! Was bedeutet schon ein Spieltag im Laufe einer Entwicklung von zehn Jahren?"
Offenbar viel. Die meisten Fußballverbände sind zwar inzwischen dazu übergegangen, bei Kindern unter neun Jahren die Ergebnisse der Liga nicht mehr aufzulisten, um ehrgeizigen Eltern keine Steilvorlage zu liefern. Trotzdem notiert sich mancher Vater penibel den Punktestand und führt jede Niederlage darauf zurück, dass das eigene Kind nicht genügend eingesetzt wurde. Nur selten endet so ein Konflikt zwischen Trainer und Eltern unentschieden einer von beiden räumt das Feld. In einigen Fällen ist das nicht zu vermeiden. Aber Trainer können den Umgang mit Eltern trainieren. Guido Francescon versucht in seinen Seminaren, die er in Kooperation mit dem Hessischen Fußballverband veranstaltet, die Rolle der Eltern positiv zu sehen und Tipps zu geben. "Es ist wichtig, dass Trainer den Eltern Interesse signalisieren und ihren Anregungen Raum geben, etwa vor oder nach dem Spiel oder auch beim Elternabend."
Elternabende. Nirgendwo weht der Sportsgeist heftiger. Da werden die ersten vier Punkte der Tagesordnung Besprechung der Rückrunde, Mannschaftskasse, Pfingstfahrt, Abschlussfeier in einer halben Stunde abgehandelt, der Punkt "Verschiedenes" aber beansprucht zwei Stunden. Vereinsvorstand, Trainer und Eltern diskutieren Themen von elementarer Bedeutung. Duschen nach dem Spiel muss sein, das dient nicht nur der Hygiene, sondern dem Sozialklima. Wer nicht duscht, wird beim nächsten Turnier zur Strafe nicht eingesetzt. Kann das wahr sein? Unser Sohn ist ein Single-Duscher, er kann das Gekreische und die Seifenschlachten in den Kabinen nicht leiden. Das geht nicht. Durch die Gemeinschaftsdusche muss er durch. Das macht ihn zum Mann. Apropos Mann dürfen die Mütter die Umkleidekabinen betreten, während die Achtjährigen sich umziehen und duschen? Bitte nicht mehr, sagt der Trainer. Wilde Kerle müssen unter sich sein.
"Sabu, mach Tor!"
Robin reißt die Arme hoch. Beim Punktspiel gegen Farmsen hat er gerade das siebte Tor geschossen. Ein schneller Blick zum Vater der hebt den Daumen. Zu Hause werden die beiden dann auf Papier die Laufwege nachzeichnen. "Lars ist der Fachmann", sagt die Mutter, "ich schaue auch gern zu, aber das fachsimpeln überlasse ich Vater und Sohn." Schwester Ronja, vier Jahre alt, fallen langsam die Augen zu. Dass die ganze Familie inklusive Großeltern den sonntäglichen Ausflug zum Fußballplatz mitmacht, ist Ehrensache. So sieht das auch Ahmad Shah, der mit seiner Frau Marjam und Sohn Shervin,10, den kleinen Sohn Sabu, 6, anfeuert. "Shervin hat in der Schule mit dem Fußballspielen angefangen, und der kleine Bruder hat nachgezogen", erzählt der Taekwondo-Lehrer, der vor 29 Jahren aus Afghanistan nach Deutschland kam. Seit beide Kinder beim Farmsener TV spielen, tüftelt das Ehepaar Wochenende für Wochenende den Terminplan für die G- und E-Jugend-Staffel aus. Fußballeltern vereint ihr Schicksal, egal aus welchem Land sie kommen und welchem Beruf sie nachgehen. Wie wohl bei keinem anderen Sport verwischen sich beim Fußball soziale Unterschiede. Eine Statistik über Migranten unter den 1,8 Millionen Jugendfußballern führt der Deutsche Fußball- Bund (DFB) nicht einmal. Egal, ob einer auf dem Hinterhof kickt oder auf der Wiese hinter dem Asylantenheim "früher oder später findet jedes Talent den Weg in den nächsten Sportverein", meint der Hamburger DFB-Stützpunktkoordinator Stephan Kerber. "Dafür sorgen schon die anderen Kinder."
Für Fußballeltern ist Kerber ein wichtiger Mann. Er ist einer, der Superstars macht, ein Dieter Bohlen des Fußballplatzes. Nur über ihn kommt man in die Hamburger Landesauswahl. Seit der DFB sich im Jahr 2002 verstärkt die Talentförderung auf die Fahnen geschrieben hat und dafür bundesweit acht Millionen Euro ausgibt, sind der 35-jährige Kerber und seine Scouts auf den Sportplätzen in Hamburg unterwegs. Bis zu achtzig Jugendliche im Alter von zwölf und 13 Jahren laden sie pro Jahr zu einem Auswahlturnier ein. Nur ein Bruchteil von ihnen erkämpft sich tatsächlich den Vorteil, einmal in der Woche mit dem Landestrainer üben zu dürfen. Ob dann einer tatsächlich zum Profifußballer wird, hängt nicht nur von seinen technischen Fähigkeiten ab. "Talent heißt nicht nur viele Tore schießen", sagt Kerber, "auch soziales Verhalten ist wichtig. Die Kinder müssen Biss haben, um eine Laufbahn über längere Zeit zielgerichtet zu verfolgen."
Stephan Kerber spielte selbst einmal in der Landesliga, bevor er mit 24 Jahren wegen einer Verletzung seine aktive Fußballerkarriere beenden musste. "Früher", sinniert er, "waren Eltern viel mehr mit der Existenzsicherung beschäftigt und hatten weniger Zeit für ihre Kinder. Heutzutage sehen sie sich verpflichtet, sich über alles zu informieren, was den Nachwuchs fördern könnte." Ein wenig Bedauern liegt in seinem Tonfall. Und ein wenig Nostalgie, wenn er erzählt, wie er selbst als 14-Jähriger über eine Stunde mit dem Rad bei Wind und Wetter zum Training gefahren ist. "Heute werden die Jungs mit dem Auto chauffiert. Und jeder Regen wird zum Problem. Dann stehen Eltern und Kinder auf der Fahrt nach Hause im Stau, und der Frust kann nicht abgebaut werden. Schade, dass Jugendliche heute nur noch so wenig Zeit haben."
"Nach aussen, aussen, aussen!"
Für den Erstklässler Robin ist die Zeiteinteilung klar: Steht das Training an, dann lässt er jeden Kindergeburtstag sausen. Vielleicht wird es der talentierte Junge in sechs Jahren einmal in Stephan Kerbers Landesauswahl schaffen. Vielleicht aber auch nicht. Die Eltern sehen das locker. "Solange Fußball spielen ihm Spaß macht, ist das okay", sagt Lars Heinemann. "Dann unterstützen wir ihn. Aber er muss nicht." Der Vater weiß, wie schnell sich das ändern kann. Als Jugendlicher waren Lars Heinemann von einem Tag auf den anderen Frauen und Motorräder wichtiger als der Ball. "Vieles kann sich ändern, wenn die große Liebe dazwischenkommt." Wir Fußballeltern hoffen: Es wird eine, die uns hilft, die Nutella-Brötchen zu schmieren.