Ein Jahr zuvor hatte Berta Giehl, damals 79, mit ihren drei Töchtern auf der Eckbank des Berggasthofs im Allgäu gesessen, wo sie schon als Kinder oft eingekehrt waren. Sie hatte sich extra die Haare machen lassen, trug die feine Silberkette mit dem blauen Stein und die Stadtschuhe mit den hohen Absätzen. Der Sekt hatte sie alle heiter gemacht, ein bisschen sentimental auch, und irgendwann redeten sie vom Tod. Frau Giehl überlegte, welches Kleid sie gern im Sarg tragen würde, vielleicht das schöne blaue? Ihre Töchter sagten, dass sie bei ihr sein wollten, wenn es so weit sei, dass sie ihre Hand halten und ihr beim Sterben helfen würden, so gut das eben gehe. Und dass sie ihren Leichnam waschen würden: "Mutti, an dich kommt kein fremder Mann ran", hatte die Älteste noch gesagt. Der Tod sollte sie nicht überrumpeln.
"Mutti, an dich kommt kein fremder Mann ran"
Am Nachmittag des 30. April 2003 fuhren Sanitäter Frau Giehl ins Krankenhaus Sonthofen, Verdacht auf Schlaganfall. Der Staatsanwalt schreibt in der Anklageschrift: "Am späten Nachmittag war die Patientin schon wieder in der Lage, sich mit ihrer Tochter zu unterhalten. Auch um 20.00 Uhr war die Patientin ansprechbar. Es gelang den Ärzten, die Situation zu stabilisieren. Die Patientin litt an keiner schweren Krankheit." Etwa zwei Stunden später war sie tot.
Die Schwestern waren zu spät gekommen. Sie wuschen ihre Mutter, legten ihr das blaue Kleid an und begruben sie. Sie war schon alt, deshalb machten sie sich keine Gedanken, warum sie so plötzlich gestorben war.
Ein Jahr später meldete sich die Polizei. Die Ermittler hatten Todesfälle auf der Station des Krankenhauses mit den Dienstplänen abgeglichen. Dabei war ihnen aufgefallen, dass überraschend viele Patienten gestorben waren, während der Krankenpfleger Stephan L., damals 25, Dienst tat. Pathologen exhumierten und untersuchten den Leichnam. Sie fanden Spuren von Medikamenten, die der Mutter nicht verschrieben worden waren. Der Staatsanwalt wirft Stephan L. 29 Tötungen vor, darunter 16 Morde. Im Februar 2006 begann der Prozess.
Für die Töchter von Berta Giehl begann eine schwierige Zeit.
Sie halten zusammen und driften auseinander
Die Töchter, das sind Waltraud S., 55, Altenpflegerin, zweifache Mutter; Ursula H., 54, Hausfrau, früher Friseuse für Film und Theater, dreifache Mutter; Anneliese W., 50, Altenpflegerin, zweifache Mutter. Es gibt noch eine vierte und jüngste Tochter. Sie bleibt hier außen vor.
Sie halten zusammen und driften auseinander, sprechen sich Mut zu und sind sich Zumutung, ziehen sich hoch und runter, und manchmal tun sie all das gleichzeitig.
Wie an jedem der bisher über 30 Verhandlungstage sitzt Ursula H., schlank, graue Haare, Goldkette, im Gerichtssaal, als ihr wie nebenbei diese Fantasie kommt: eine Bombe, ein Bewaffneter, ein Feuer. Irgendwas. Was wäre, wenn sie hier im Gerichtssaal über Tage hinweg eingeschlossen wären: Angeklagter, Richter, Verteidiger, Angehörige? Wenn Wasser und Nahrung knapp würden. Würde sie Stephan L. etwas davon geben? Kurzes Schweigen. "Was soll's, ist bloß so eine Fantasie", sagt sie dann und wischt sie mit der Hand zur Seite, was ungewöhnlich ist, denn sie ist sehr sparsam mit Gesten. Traurig klingt ihre Stimme, manchmal so, als sei sie für Wut zu müde. "Ich weiß nicht, was ich täte." Sie ist die mittlere Schwester. Sie ist die Ruhige.
Sie ist die Älteste. Sie ist die Zornige.
"Ich wüsste es schon", platzt es aus Waltraud heraus, "ich würde dem an die Gurgel gehen!" Sie spricht immer auch mit ihren klaren, bewegten Augen, mit Brauen und Händen, und manchmal unterbricht sie sich: "Entschuldigung, bin ich wieder zu laut?" Ihre Stimme ist tief, ihr Haar rötlich, inständig ihr Blick. Viele ihrer Sätze enden mit Ausrufezeichen. Sie wusste immer, was zu tun ist. Sie ist die Älteste. Sie ist die Zornige.
Anneliese kann mit dieser Fantasie wenig anfangen. Sie hat erst drei Prozesstage verfolgt, hat sich der Nebenklage nicht angeschlossen und hält auch keinen Kontakt zur Vertreterin der Opfervereinigung Weißer Ring. "Ich muss mir das nicht alles antun. Ich habe Familie und Beruf und mein Leben zu leben. Und ich will es meinen Kindern vorleben, dass man schlimme Sachen verarbeiten kann." Sie trägt ein ärmelloses T-Shirt, einen kurzen Rock und rustikale Sandalen. Sie geht viel in die Berge und radelt. Sie will nicht zurückschauen. Sie ist die Jüngste von den dreien. Sie ist die Pragmatische.
"In Wahrheit über ihn richten kann nur Gott."
Stephan L. "beschäftigte sich vor der Tat weder mit der Person der Patientin noch mit deren Krankheit", hatte der Staatsanwalt gesagt. "Er beendete das Leben der Patientin selbstherrlich nach seinen eigenen Wertmaßstäben." Ursula bemüht sich, dem Angeklagten gerecht zu werden. Dass die Lokalzeitung ihn als "massigen Mann" beschreibt, stört sie: "Wir sollen nicht nach dem Aussehen urteilen." Hat sie ihm verziehen? Sollte sie, die gläubige Christin, ihn nicht sogar lieben, ihren Feind? "Ich bin froh, dass ich ihn nicht hasse." Dafür, dass sie der Mutter nicht beistehen konnte. Dafür, dass er der Mutter Lebenszeit gestohlen hat. "Es war nicht ihr Tod, und es war nicht ihr Todestag." Für ihn gebetet jedenfalls, wie es die Bibel will, habe sie noch nicht. Sie legt einen Zeitungsausschnitt auf den Wohnzimmertisch umgedreht, mit dem Foto des Angeklagten nach unten. "Ich will ihn nicht um mich haben." Sie sammelt die Artikel. Irgendwann will sie sie verbrennen. Mit welchem Urteil der Prozess ausgehen wird, ist ihr weniger wichtig, als herauszufinden, was mit ihrer Mutter passiert ist. "Lasst die Gerichte ihre Arbeit tun. Aber in Wahrheit über ihn richten kann nur Gott. Er hat auch Mördern vergeben."
Kein Trost für Waltraud. Sie will Gerechtigkeit im Diesseits und ist zuversichtlich, dass es sie gibt. "Ich hoffe, dass der Mörder bis zum Ende seiner Zeit im Gefängnis bleibt. Ja klar, seine schlechte Kindheit", unterbricht sie sich selbst, "aber es wird doch nicht jeder zum Mörder deswegen, sonst gäb's ja nur noch Mord und Totschlag! Uns sagt er, er hätte es aus Mitleid getan! Und sitzt da und zeigt keine Regung. Uns kann er mit seinem Mitleid nicht einlullen!"
Anneliese erinnert daran, wie liebevoll L. die Angehörigen getröstet hatte. Er hatte Berta Giehls Schwester in den Arm genommen, sie ins Sterbezimmer geführt, Kerzen und Tee angeboten. War das zynisch oder ehrlich gefühlt? "Vielleicht war es nicht das Töten, sondern das Trösten, was er suchte", sagt Anneliese. "Vielleicht wollte er gebraucht werden. Ach, ich versteh ihn nicht", sagt sie und macht einen Ruck auf die Vorderkante ihres Stuhls. "Aber was soll ich ihn überhaupt verstehen!"
Die Ermittler haben den Todeshergang so beschrieben: Der Täter spritzte den Opfern erst ein Narkotikum, um sie zu betäuben, dann ein muskellähmendes Mittel, damit ihre Atmung aufhöre im Idealfall ein schmerzfreier Tod. Doch die Rechtsmediziner konnten nicht klären, in welcher Reihenfolge, welcher Menge und welchem Abstand Berta Giehl die Medikamente bekam. Zeugen berichteten von Atemnot unmittelbar vor ihrem Tod. Das bedeutet, dass sie bei vollem Bewusstsein erstickt sein könnte.
Es sind diese letzten Minuten, die Waltraud Schönberger vor jedem Prozesstag zum Schlafmittel greifen lassen, das ihr der Arzt verschrieben hat. Von sich aus kommt sie darauf zu sprechen, mehrmals. Sie wischt sich Tränen aus dem Gesicht, es verschlägt ihr die Stimme. "Das Schlimme ist, dass der Kerl nicht gestanden hat." Sie kann und will es nicht gut sein lassen, will alles, alles wissen. Einmal, in einer Verhandlungspause, ging sie zum Angeklagten und sagte: "So tötet man nicht einmal ein Tier!" Ursula zog sie schließlich weg. Trotzdem, immer wieder: Waltraud geht dahin, wo es wehtut. Bis es nicht mehr so wehtut. Irgendwann vielleicht, hoffentlich. Sie will den Schmerz stellen, ihn dingfest machen. "Ich bin weniger verzweifelt, wenn ich alles erklären kann", sagt sie, "und seh dann auch das Gute besser." Sie glaubt an Linderung durch Aufklärung. Der Prozess als Therapie.
Stephan L. sitzt auf der linken Seite des Verhandlungssaals, vor ihm 16 Aktenordner und zwei Verteidiger, auf der anderen Seite die Anwälte der Nebenkläger, drei Sachverständige und der Staatsanwalt. In der rechten Ecke sitzt Waltraud. Weit entfernt von L., doch mit gutem Blick auf ihn, sieht sie sein unbewegtes Gesicht, seine Regungslosigkeit, sein gleichmäßiges Atmen, das den Brustkorb sachte hebt und senkt, den schweren Bauch aber kaum. Und sie hört sein Schweigen. Es macht sie rasend hilflos. "Warum hat er das getan? Frust? Machtstreben? Mordlust?" Wie ein Berg kommt er ihr vor, so stumm und starr. Sie hat noch keinen der über 30 Prozesstage verpasst. Der Tag endet meist spät mit einem langen heißen Bad. "Alles abwaschen", sagt sie und fährt mit der rechten Hand über den linken Arm. "So ein Tag ist Schwerstarbeit für mich."
Ursula hilft ihr. "Die Waltraud war immer die Ältere, war für uns verantwortlich. Unser Verhältnis war nie so innig, mehr das zwischen kleiner und großer Schwester. Irgendwie hat sich das geändert. Ich möchte sie jetzt auf ihrem Weg begleiten und auf sie aufpassen. Nicht, dass ich bloß wegen ihr hier bin, das nicht", sagt sie, "aber es ist schon gut, wenn jemand ein Auge auf die Waltraud hat."
Sie sind sich näher gekommen in der letzten Zeit.
Die weist das von sich. "Sorgen? Um mich? Ich weiß, was ich mir zumuten kann!" Wenn beide nach einem Prozesstag wieder zu Hause sind, Ursula in Kempten, Waltraud in Olching bei München, dann ruft die Kleine die Große an und fragt: "Bist du gut heimgekommen?" Sie sind sich näher gekommen in der letzten Zeit.
Zwischen Waltraud und Anneliese ist es umgekehrt. "Ich fürchte, sie zu verlieren", sagt Anneliese. "Wir hatten früher ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Aber ich kann jetzt kaum noch mit ihr telefonieren. Ich mag sie nimmer anrufen, weil mich Stimme und Ton wahnsinnig erschrecken, das macht mich sprachlos. Ich komm nicht an sie ran. Sie spricht nur noch vom Prozess. Aber was nützt es denn, wenn sie ständig wieder damit anfängt?"
"Sie fragt immer: 'Nützt es was? Das macht Mutter auch nimmer lebendig'", sagt Waltraud. "Ich kann das nimmer hören! Ich möchte ein Mal von ihr hören: 'Ich kann nicht damit umgehen. Ich schaff das nicht.' Das könnte ich verstehen. Aber es entspricht einfach nicht ihrer flapsigen Art, so was zu sagen."
"Ich empfinde unsere Mittlere als Mittlerin"
Der Prozess hat Waltraud und Anneliese auseinanderdriften lassen. Waltraud dorthin, wo es wehtut. Anneliese dorthin, wo es sich aushalten lässt. Und dazwischen Ursula. "Ich empfinde unsere Mittlere als Mittlerin", sagt Anneliese.
Ausgerechnet Ursula. Die seit Jahren bei keinem Geburtstag und keiner Weihnachtsfeier ihrer Schwestern mehr war. Das sind für sie heidnische Feste. Selbst dem Beerdigungsgottesdienst für die Mutter blieb sie fern. Ursula Haug ist Zeugin Jehovas. Sie hört gern "Königreichsmelodien", die mal mit Mundharmonika, mal mit Synthesizer gespielt werden, mal wie Hymnen klingen, mal an Orchestertheatralik von Filmmusik aus den 30ern erinnern. Nichts, was im Radio läuft.
Für sie ist die Bibel nicht zu interpretieren, sondern nur richtig zu verstehen oder falsch. Ursula ordnet ihre Welt von Gott her und zu ihm hin. Von Vorherbestimmung will sie aber nichts wissen. Gott habe den Menschen den freien Willen gegeben und damit die Fähigkeit zur Sünde. Das Böse komme deshalb von den Menschen, nicht von Gott. Ursula erinnert an das Schicksal Hiobs, an Abrahams Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, an das Leiden Christi sich in das Leiden zu fügen, sei eine Frage des Gehorsams gegen Gott. "Unsere Mutter ist gestorben, begraben und zu Erde zerfallen." Deshalb spricht sie auch nicht mit ihrer Mutter. ",Die Toten sind sich nicht des Geringsten bewusst', so steht's im Prediger. Aber Gott lässt uns nicht im Unklaren, wo die Toten sind. Eines Tages wird die Mama auferstehen. Darin zeigt sich Gottes Liebe." Was ohnehin nicht in Ursulas Hand liegt, das gibt sie aus der Hand. Es erleichtert sie.
Ihre Schwestern bewundern diese Stärke. Ursula bindet die Fliehkräfte, die an den beiden zerren. Gleichzeitig lächeln sie über das Fromme. Ursulas Sicht mag klar sein, aber ob es auch die richtige Sicht ist? Hilft ihr der Glaube, das Geschehene zu verarbeiten? Oder wegzudrängen? So oder so: Er hilft ihr. Ihren beiden Schwestern steht dieser Weg nicht offen. "Im Glauben kann ich ihnen leider nicht helfen", sagt Ursula.
"Ich werde keine Antworten auf meine Warums bekommen, und das werde ich so akzeptieren", sagt Anneliese. "Sonst würden mich die Warums verzweifeln lassen. Wir müssen damit leben." Sie war die letzte der Schwestern, die ihre Mutter an deren letztem Abend lebend gesehen hat. Was wäre gewesen, wenn sie geblieben wäre? Wieder so ein Warum. Stehen lassen, weitergehen. Zum Geburtstag hat ihr der Sohn einen Gleitschirmflug geschenkt. Anderthalb Stunden oben, kräftige Aufwinde. "Der Himmel war so nah und so weit. Ich hab hochgeschaut und Mamas Gesicht gesehen. Ich habe das Gefühl, sie freut sich mit mir, weint mit mir und tröstet mich. Ich bin in Kontakt mit ihr." Ursula sagt, das widerspreche Gottes Wille. Was Waltraud wiederum kindisch findet.
Allen dreien tut es weh: Was passiert ist und was das mit ihnen macht. "Aus jedem Unglück kann das Gute wachsen, so wie aus jedem Dreck einmal Humus wird", sagt Waltraud. Die Altenpflegerin will die Leute für die harte Lage und das Liebesbedürfnis vieler alter Menschen sensibilisieren; Ursula sagt, ihr Gottvertrauen sei gewachsen; und Anneliese möchte ihren Kindern ein gutes Vorbild sein. Neuerdings sprechen sie und Waltraud wieder mehr miteinander. "Es wird schon. Wir müssen das jetzt so lassen, dann geht eben jede ihren Weg. Irgendwann wird er uns wieder zusammenführen."
Das Kemptener Gefängnis liegt nur ein paar hundert Meter von Ursulas Haus entfernt. Ein paar Mal ist das Polizeiauto mit dem Angeklagten morgens schon hinter ihr hergefahren. Eigenartig, dachte sie, wir beide haben denselben Weg vor uns, das Landgericht. Dort, wo die Richter verhandeln über die Schicksale von Stephan L., Berta G. und den drei Schwestern.