Etwa nur, wer die Kunst des Skandals beherrscht?
30.11.2010

Jeder Politiker, der sich in der Öffentlichkeit präsentieren muss, ist auf Radio, Fernsehen und Zeitung angewiesen. Die Medien haben ihre eigenen Gesetze dafür, wen sie beachten und wen nicht. Da zählt die Aufregung mehr als das sachliche Argument. Und mit dem Streit zwischen Personen werden Emotionen eher geweckt als im Streit um die Sache. Deshalb wird jede Auseinandersetzung zwischen Politikern genüsslich ausgebreitet. Üble Nachrede eingeschlossen. Das befeuert die Stimmungsmaschine. Der EU-Kommissar Günter Verheugen hat einmal im Spott aufgeschrieben, nach welchen Regeln Politiker am besten eine hohe Medienpräsenz erreichen. Etwas abgewandelt könnte man sagen:

  1. Positive Mitteilungen über die eigene Partei oder die Abgeordnetenkollegen: Desinteresse bei den Medien!
     
  2. Kritik am Einkommen und an den persönlichen Lebensverhältnissen von Kollegen: starkes Interesse der Medien.
     
  3. Wohlwollen und Verständnis für andere: wenig Interesse. Aber interner Zoff wird immer Schlagzeilen machen. Nahles gegen Müntefering, Seehofer gegen Merkel, Beckstein gegen Huber, alle gegen Stoiber: das zieht.

Angesichts dieser ständigen Aufregungen, Rücktrittsforderungen und Zänkereien finden weder Politiker noch Journalisten die Ruhe, den Dingen auf den Grund zu gehen und substantielle Lösungsvorschläge auch ohne öffentlichen Druck gegeneinander abzuwägen. Im harten Konkurrenzkampf der Medien um Quoten, Anzeigenkunden und Rendite ist das Adrenalin aller Beteiligten der wichtigste Treibstoff für den Erfolg. Der Glaubwürdigkeit dient das nicht. Politiker und Journalisten sind längst nicht mehr in dem symbiotischen Verhältnis miteinander verbunden, das die Frühzeit der Bonner Republik bestimmte. Sie stecken nicht mehr unter einer Decke. Heute lebt der Journalist vom Politiker ­ wie der Schmarotzer vom Wirtstier. Politiker sind längst keine Respektspersonen mehr. Es wird eine Stimmung des Neids geschaffen ­ Stichwort "Reichensteuer" ­, und kein Vorurteil ist zu platt, um es nicht gegen andere ins Feld zu führen ­ Thema "Politiker als Abzocker". Im Machtspiel zwischen Medien und Politik sind Politiker meist Verlierer und Journalisten die Profiteure. Denn Skandale ­ wirkliche oder eingebildete ­ schaffen Schlagzeilen, Schlagzeilen machen Auflage, Auflage sichert den Arbeitsplatz. Politiker werden von Journalisten gebraucht und benutzt und nicht umgekehrt.

Politiker und Journalisten brauchen einander wie Wirtstier und Schmarotzer

Den höchsten Gebrauchswert für die Medien hat, wer sich geschickt inszeniert ­ wie der frühere Medienprofi Gerhard Schröder, der bei seiner standesamtlichen Hochzeit mit seiner Ehemaligen Hiltrud erst den Sekt und dann die Ringe vergaß und den Medien damit gleich einen Doppelgag bot. Mit Aktenfresserei, Detailwissen, lähmenden Ausschusssitzungen und dem Entwirren eines kafkaesken Paragraphengeflechts lässt sich in den Medien kein Blumentopf und wenig Anerkennung gewinnen. Wer sich dabei bis zum Herzinfarkt aufreibt, steigert seine Beliebtheitskurve beim Wähler nicht.

Der gesellschaftspolitische Auftrag der Medien lautet: informieren, erklären und aufklären, um damit dem Bürger ein selbstständiges Urteil über das politische Geschehen zu ermöglichen. Aber häufig ist dort, wo Politik draufsteht, nicht viel Politik drin. Jede erfolgreiche Talkshow ist nach dem Prinzip der Fernsehserie gestrickt. Es treten immer dieselben Personen auf. Das Publikum beobachtet gespannt, welche Gruppendynamik sich zwischen den Darstellern entwickelt: Wer ist heute besser drauf ? Wer gibt dem anderen eine mit? Wer hat die witzigste Formulierung parat? Der Zuschauer achtet auf die Krawatten, auf die Sympathie, die der Einzelne ausstrahlt, ob kleine Gags eingebaut werden, wie der von Guido Westerwelle mit der Schuhsohle "18 Prozent". Der Schuh ist heute im Schuhmuseum in Hauenstein in der Pfalz zu besichtigen. Manchmal werden Nebenrollen besetzt ­ wie durch den Friseur der Moderatorin. Demnächst wird jemand seinen Taxifahrer mit ins Studio bringen. Ab und zu fällt ein Darsteller raus ­ wie in einer richtigen Fernsehserie. Erinnern wir uns an den damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping nach seinem vielbeachteten Auftritt im mallorquinischen Pool oder den inzwischen schon wieder vergessenen CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer.

Haben die Medien nicht die Aufgabe, die Deutschen zu besseren Menschen zu erziehen? Ich fürchte, was Generationen von Pastoren und Pädagogen und auch Karl Marx nicht gelungen ist, den besseren Menschen zu schaffen, das wird selbst wohlmeinenden Journalisten nicht gelingen. Medien sind auch eine Stimmungsmaschine. Und so werden auf dem Medienmarkt Vorbilder vornehmlich nach ihrem Unterhaltungsfaktor bewertet. Engagierte Zeitgenossen dürfen die Bequemlichkeit nicht allzu sehr stören. Deshalb wird von den Medien jedes Vorbild reflexartig wieder auf Mittelmaß zurückgestutzt. Erinnern wir uns an den Erfurter Lehrer Heise. Der brave Mann hatte bei dem grässlichen Schulmassaker dem Serienkiller die eigene Brust dargeboten, um ihn dann in der Gerätekammer außer Gefecht zu setzen. Endlich hatten wir einen Helden. Doch über Nacht wurde klar, dass der Feigling in uns mit Lehrer Rainer Heise doch nicht so gut bedient war, denn wenn in der Straßenbahn eine Ausländerin angepöbelt oder wenn einem alten Mütterchen die Handtasche weggerissen wird, dann müssten wir ­ dieses Vorbild vor Augen ­ selber einschreiten und uns zum Opfer darbieten.

Was Dieter Bohlen gegen Buttermilch und warum Kate Moss ein Problem hatte

In diesem Moment beschloss die Öffentlichkeit: Lehrer Heise darf kein Vorbild sein, und die Medien als willige und servile Vollstrecker des Volkswillens begannen sofort, am Sockel der Heldengestalt zu sägen. Lehrer Heise wurde als Sonderling und Aufschneider madig gemacht ­ bis ein paar Monate später der abschließende Polizeibericht seine Darstellung voll bestätigte. Aber da war Lehrer Heise schon längst aus dem journalistischen Kurzzeitgedächtnis verschwunden. Langwährende Medienleitbilder sind nicht die Politiker, und sie heißen nicht Heise, sie heißen Dieter Bohlen, Verona Pooth und David Beckham und eignen sich besser als der Mann der guten Tat zur Serienberichterstattung. Sie stimulieren die Neugier des Publikums und sind deshalb vielfach vermarktbar. Hätte Lehrer Heise sich gleich nach der Erfurter Bluttat von seiner Lebensabschnittsgefährtin getrennt, eine Schülerin geheiratet, die gepierct und nabelfrei bei "Star-Search" auftritt, dann hätte er als Serienheld überdauern können.

Es ist eine traurige Wahrheit: Mediale Leitbilder werden nach den Gesetzen des Marktes geboren. Sie sollen nicht die Menschheit veredeln, sondern als Stimmungskanonen einen Verkaufsanreiz bieten und die Anzeigenseiten in Printmedien und die Werbespots im Fernsehen bevölkern. Aber als Mietgesichter übernehmen sie keine Garantie. Dieter Bohlen und die Müller-Milch: Obwohl er bei Müller unter Vertrag stand, äußerte sich Bohlen in einem Interview in "Bild am Sonntag" abfällig über die Zielgruppe, die er zum Kauf der Müller-Produkte animieren sollte. Er meinte: "Buttermilch wird von fünfzigjährigen alternativen Biolatschen-Trägerinnen gekauft!" Daraufhin kündigte das Unternehmen den Werbevertrag fristlos. Als das Supermodel Kate Moss mit Kokain erwischt wurde, verlor sie alle ihre Werbeverträge ­ mit Juwelieren, mit Chanel und Dior, mit Hennes & Mauritz und Burberry. Jetzt robbt sie sich mit Nacktfotos wieder in die Öffentlichkeit. Die Glaubwürdigkeit der Prominenten und der Medienprodukte, die von der Darstellung dieser Society-Produkte leben, fördert das nicht.

Wer in diesem Medien-Dschungel-Camp mit Anstand und als journalistischer Aufklärer überleben will, wird sich an zwei Handlungsmaximen halten: 1. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem anderen zu. Das gilt auch für die Verbreitung von Klatsch, Gerüchten und übler Nachrede. 2. Wenn es schon nicht gelingt, den Deutschen ihre Vorurteile zu nehmen, sollten sich die Medien nicht ständig als Produzenten neuer Vorurteile betätigen. Leser, Hörer und Zuschauer können leicht überprüfen, ob sich Journalisten an diesen Regeln orientieren. Im Übrigen gilt das unverbrüchliche Menschenrecht auf Um- oder Abschalten, und die Zeitung, die einem nicht passt, darf den Papierkorb zieren. Auch im Medien-Dschungel-Camp herrscht das Überlebensgesetz: Wer resigniert, hat schon verloren.