Ob es an meiner deutschen Herkunft liegt, dass ich ständig in Glaubensgeheimnisse eingeweiht werde? Daran, dass meine irakischen Kollegen in mir die vernunftbetonte, der Religionsfreiheit verpflichtete Europäerin sehen, der sie sich gefahrlos anvertrauen können? Im März 2005 bin ich in den Irak gegangen, genauer: in den kurdischen Norden, wo ich in Sulaimania für das britische Institute for War and Peace Reporting (IWPR) irakische Journalisten ausbilde. Seither werde ich ständig in Glaubensgeheimnisse eingeweiht. Geheimnisse, die von hohem Risiko für Leib und Leben derer sind, die sie aussprechen. Es heißt zwar im Koran, Sure 2, 256: "Es gibt keinen Zwang in der Religion." Der Alltag aber sieht, nicht nur im Irak, oft anders aus.
Glaubensfreiheit - ein Recht, das ich im Irak wieder so richtig zu schätzen lernte.
Es sind Geheimnisse, die mir ins Gedächtnis rufen, wie privilegiert wir sind in Deutschland, im Schutzbereich eines Grundgesetzes, das uns "die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses" garantiert. Ob ich glaube oder nicht, was ich glaube und warum, ist allein mir überlassen - ein Recht, das ich im Irak wieder so richtig zu schätzen lernte.
Als ich für meine Arbeit einen Arabischübersetzer suchte, stellte sich Emad vor, ein junger Mann aus Baschika, einem kleinen Dorf zwei Stunden von Sulaimania entfernt. Nachdem er mir Zeugnisse überreicht und lebhaft von früheren Jobs erzählt hatte, hielt er plötzlich inne, druckste und sagte dann: "Ich bin übrigens kein Muslim, ist das ein Problem?" Ein Problem? Mir wäre nie in den Sinn gekommen, nach seiner Konfession zu fragen. Schließlich suchte ich einen Übersetzer, keinen Koranexperten. "Ich sage das lieber gleich, denn es gibt viele im Irak, die nur Muslime einstellen. Ich bin aber Jeside", erklärte er mir. Jesiden bilden eine kleine religiöse Minderheit im Irak. Ihre uralte Religion vereint den altiranischen Kult der Zoroastrier unter anderem mit jüdischen, christlichen und islamischen Elementen. Jesiden glauben an einen Gott und sieben Engel sowie an die Reinkarnation.
Bei den Radikalinterpreten des Islams, die sich in Teilen Iraks als Alleinbevollmächtigte des Glaubens sehen und aufführen, gelten Jesiden als Ungläubige, die man im Grunde straflos töten darf. Weshalb sich die Jesiden bisweilen der Taqiya (Vorsicht) genannten Strategie bedienen, wie ich von Emad lernte: "Wenn wir in Gefahr sind, dürfen wir unseren Glauben verleugnen, ohne uns vor unserem Gott schuldig zu machen."
"Ich bin jetzt Christ!" Sofort hatte ich ein Dutzend Fragen.
Ein weiteres Bekenntnis legte mein kurdischer Übersetzer Rizgar (Name geändert) ab. Eines Tages kam er mit einem mysteriösen Lächeln auf den Lippen zur Arbeit. "Ich habe mich heute Morgen getauft", eröffnete er mir, als keiner uns hören konnte. "Ich bin jetzt Christ!" Sofort hatte ich ein Dutzend Fragen. Geht das überhaupt? Wer weiß davon? Wer hat ihn zu diesem riskanten Schritt motiviert? Selbst im nicht ganz so streng religiösen kurdischen Nordirak muss das Leben als Konvertit gefährlich sein.
Wer sich vom Islam abwendet, gilt als Apostat, als vom Glauben Abgefallener. Eine Sünde, die die Scharia, das vor allem aus Koran und Überlieferungen des Propheten hergeleitete islamische Straf-, Zivil- und Gesellschaftsrecht, mit dem Tod ahndet. Ein Muslim, der einen Abtrünnigen tötet, macht sich nach Ansicht mancher islamischer Rechtsgelehrter nicht einmal des Mordes schuldig, sondern erfüllt nur seine Pflicht. Allerdings sollte er idealerweise dem Abtrünnigen zunächst Gelegenheit zur Reue und zur Umkehr geben.
Anders als etwa in Saudi-Arabien wird die Scharia im Irak offiziell (noch) nicht angewandt. Gefährlicher als das Gesetz aber sind für Rizgar jene, die sich selbst zum Gesetz aufschwingen: militante Islamisten, die schon wegen kleinerer Abweichungen vom angeblich richtigen Glauben töten. Als Konvertit ist Rizgar für sie ein Vogelfreier.
"Du meinst, du hast dich taufen lassen?", hakte ich nach, da ich annahm, er hätte den Weg seiner Konversion falsch übersetzt. "Nein, ich habe MICH getauft, allein, im Badezimmer. Ich habe mich in der Dusche mit Wasser begossen und die Worte gesprochen: ,Ich taufe mich im Namen Jesu.' Das reicht. Jetzt bin ich Christ." "Woher weißt du das?" "Mein Freund Duncan hat es mir gesagt. Ein Amerikaner, den ich aus dem Internet kenne. Er hat mir eine Bibel geschickt und per E-Mail zur Taufe gratuliert."
Konversion und Taufe per Internet? Willkommen im modernen Kurdistan, in dem christliche Splittergruppen mit fragwürdigen Empfehlungen versuchen, den Anteil der christlichen Bevölkerung (circa fünf Prozent) zu erweitern. Eine Selbsttaufe jedenfalls widerspricht diametral dem Sinn dieses Sakraments.
"Ich glaube, Christen sind die besseren Freunde für uns Kurden", fuhr Rizgar fort. "Je länger ich über unsere Geschichte nachgedacht habe, umso mehr kam ich zu dem Schluss: Alles Üble in Kurdistan wurzelt letztlich im Islam: unser kompliziertes Verhältnis zum Westen, unsere Rückständigkeit, die ewigen Kriege. Wären wir Christen, hätten wir auch längst unseren eigenen Staat."
Der Taufe in der Dusche folgt das Gebet hinter verschlossener Tür.
Ich habe genug Zeit in islamischen Ländern verbracht, um zu wissen, dass ein Leben ohne Religion für die meisten Menschen dort nicht vorstellbar ist. Von seiner vermeintlichen Taufe in der Dusche hat Rizgar übrigens nicht einmal seiner Frau erzählt. Bei strenger Glaubensauslegung ist ihre Ehe durch seinen Abfall vom islamischen Glauben sogar aufgehoben, wäre er als Apostat von ihr zwangsgeschieden. Auch zum Gottesdienst traut er sich nicht. "Es wäre verdächtig, wenn ich, von dem ja jeder denkt, ich sei Muslim, plötzlich in die Kirche ginge." Und so praktiziert er, was im Westen selbstverständlich ist, in der muslimischen Welt jedoch einem Akt der Rebellion gleichkommt: den Glauben als Privatangelegenheit, als Sache zwischen ihm und Gott. Der Taufe in der Dusche folgt das Gebet hinter verschlossener Tür.
Im Islam ist der Glaube keine Privatsache. Denn ein zentrales Erbe der Aufklärung, die Trennung von Religion und Staat, hat sich dort nie durchgesetzt. Über die Begriffe "säkular" und "laizistisch" kursieren im Irak, vielleicht überall im Islam, bizarre Vorstellungen. Immer wieder höre ich Interpretationen wie "libertär", "freizügig", "unmoralisch" wohl weil die Betrachtung der Dinge nach weltlichen Gesichtspunkten, gemessen am allumfassenden Ordnungsanspruch des Islams, fremd, ja verwerflich erscheint. Bis heute gilt in den meisten islamischen Ländern der Grundsatz der Einheit von Religion und Politik. Wenn aber Religion und Staat, Religion und Gesellschaft eins sind, verlässt der Konvertit nicht nur den Glauben, sondern eben auch das Gemeinwesen.
"Es gibt keinen Zwang in der Religion."
Auch Omar (Name geändert), einer meiner Studenten aus den notorisch unruhigen sunnitischen Gebieten rund um Bagdad, vertraute mir ein Geheimnis an: Er sei zum Schiitentum übergetreten, die Sunniten in seiner Umgebung finde er mittlerweise zu extrem. Ein Schritt, der im heutigen Irak mindestens so gefährlich ist wie der Übertritt zum Christentum.
"Es gibt keinen Zwang in der Religion." Eigentlich klingt das fast wie Artikel 4 des Grundgesetzes. Aber eben nur fast.