Die Empörung war groß, als am 10. Juli die römische Kongregation für die Glaubenslehre ihre "Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche" veröffentlichte. Empörung nicht zuletzt deshalb, weil namentlich "den Gemeinschaften, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind", noch einmal bescheinigt wurde, dass ihnen der Titel "Kirche" nicht zukommt und sie "nach katholischer Lehre nicht 'Kirchen' im eigentlichen Sinn genannt werden" können.
Was ist bloß mit der evangelisch-katholischen Ökumene los?
Werden die Uhren zurückgestellt?
War der Eindruck, man gehe aufeinander zu, eine Selbsttäuschung? Werden - auf beiden Seiten - die Uhren zurückgestellt? Es würde schon viel ausmachen, wenn mit mehr Sensibilität geredet würde. Aber damit allein ist es nicht getan. Es geht auch um sachliche Klärungen. Wie kann es besser werden?
Ob evangelisch, ob katholisch - wir tragen den Christennamen.
Er steht für das Profil des gemeinsam Christlichen. Wir sollten dieses Profil deutlicher hervortreten lassen.
Wenn ich nach meiner religiösen und kirchlichen Verwurzelung gefragt werde, heißt meine Antwort: Ich bin Christ. Ich bin zwar auch lutherisch und evangelisch und Protestant. Aber meine grundlegende religiöse Identität ergibt sich aus meinem Christsein. Ich bin auf den Namen unseres Herrn und Meisters Jesus Christus getauft. Alle anderen Prägungen sind gemeinschaftliche oder individuelle Variationen des Christseins und geben ihm die Buntheit der vielerlei Gnadengaben Gottes. In einer multireligiösen Welt, die in unsere Städte und Dörfer bereits Einzug gehalten hat, wird es aber immer wichtiger werden, das Profil des gemeinsam Christlichen zu schärfen.
Ein Anfang ist längst gemacht: immerhin auch von Joseph Ratzinger ("Einführung in das Christentum", 1968), Hans Küng ("Christ sein", 1974) und, auf ganz andere Weise, von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, die im Jahr 2000 unter der Überschrift "Christ-sein an der Schwelle zum 21. Jahrhundert" in zehn knappen Sätzen entfaltet hat, woran sich Christen "halten und was sie trägt" (siehe unter www.ekbo.de im Menüpunkt "Leben und Glauben"). In konfessionsverbindenden Familien und auf Gemeindeebene wird das gemeinsam Christliche kräftig gelebt. Wir sollten uns daran machen, es auch kraftvoll miteinander auszusagen.
Uns verbindet viel mehr, als uns trennt.
Uns verbindet viel mehr, als uns trennt. Wir müssen uns das beharrlich vor Augen stellen.
Die positiven Veränderungen, die sich in meiner Lebenszeit im evangelisch-katholischen Verhältnis vollzogen haben, können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Fremdheit und das Misstrauen, die die 50er und noch die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts kennzeichneten - man mag es manchmal gar nicht glauben, dass das erst ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Wir haben uns an die positiven Veränderungen gewöhnt, und dadurch entsteht ein Problem: Was selbstverständlich geworden ist, findet keine große Aufmerksamkeit mehr. Die aktuellen Erfahrungen des Getrenntseins hingegen - die fehlende Gemeinsamkeit am Tisch des Herrn oder der Streit um gemeinsame Gottesdienste am Sonntagmorgen - tun ihre Wirkung. Die "gefühlte ökumenische Temperatur" ist deutlich niedriger, als es den tatsächlichen Verhältnissen entspricht. Dabei verbindet uns viel mehr, als uns trennt: die Bibel, das Glaubensbekenntnis, der missionarische Auftrag, das Vaterunser und die Psalmen als Schule des Gebets, die 10 Gebote und das Doppelgebot der Liebe als Zusammenfassung des Willens Gottes. Gerade ein halbes Jahr ist es her, dass die wechselseitige Anerkennung der Taufe feierlich bekräftigt wurde. Das alles darf nicht als selbstverständlich abgehakt, sondern muss als ein anvertrauter Schatz dankbar gewürdigt werden.
Die Kirchen brauchen einander, weil sie sich gegenseitig ergänzen und korrigieren. Die Stärken sollten wir uns zum Vorbild nehmen und mit den Schwächen barmherzig umgehen.
Als Einzelkirchen sind alle zu eng, zu bescheiden und zu wenig.
Der entscheidende Grund für die christlichen Kirchen, ökumenisch zu denken und zu handeln, ist ihre Bedürftigkeit: "Alle sind sie als Einzelkirchen zu eng, zu bescheiden und zu wenig. Am engsten und darum am unerträglichsten sind sie dort, wo sie alles und der anderen nicht bedürftig zu sein glauben" (Fulbert Steffensky). Aus einer solchen Einstellung erwächst die Bereitschaft, sich über die Erfolge und das Ansehen einer anderen Kirche von Herzen zu freuen, statt sie ihr zu neiden. Und bei der Mitfreude wird es nicht bleiben. Sie drängt weiter zu der Frage, ob der eigenen Kirche nicht etwas fehlt, mit anderen Worten: ob die Stärken der anderen Kirche nicht ein Vorbild sind. Die Antwort wird unterschiedlich ausfallen. Ich bin gern evangelisch, katholisch will ich nicht werden, Ziel ist die Einheit in Verschiedenheit. Aber auf dem Eigenen zu beharren kann nicht alles sein. Denn konfessionelle Selbstgenügsamkeit macht arm. Unter Evangelischen ist das Klischee weit verbreitet: Katholiken müssen jeden Sonntag in die Messe gehen, bei uns herrscht dagegen protestantische Freiheit. Können wir auf den Mangel an Beheimatung im Gottesdienst und die Verwechslung von Freiheit mit Ungebundenheit wirklich auch noch stolz sein? Dem achtsamen Umgang mit den Stärken korrespondiert ein achtsamer Umgang mit den Schwächen der anderen. Ein guter Leitfaden dafür könnte die Wendung sein, die Martin Luther bei der Auslegung des 8. Gebots gebraucht hat: Wir sollen den anderen "entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren".
Niemand verfügt über die Wahrheit. Wir müssen uns darum abverlangen, im Streit um die Wahrheit die Abhängigkeit unserer Aussagen vom eigenen Standpunkt kenntlich zu machen.
Die theologische Kontroverse zwischen der römischen Kirche und den reformatorischen Kirchen gewinnt ihren Ernst daraus, dass es dabei im Kern - Gott sei Dank nicht in allen Einzelfragen - um die Erkenntnis der Wahrheit geht. Wo es aber um die Wahrheit geht, kann sich niemand mit einem "sowohl als auch" oder einem Formelkompromiss begnügen. Auf dem Spiel steht ja nicht allein, die Wahrheit zu erkennen, sondern in ihr zu leben, mithin auf festen Grund und nicht auf Sand zu bauen. Deshalb können wir die Wahrheitsfrage nicht umgehen - das tut entgegen einem jüngst wieder erhobenen katholischen Vorwurf das evangelische Verständnis von der Einheit der Kirche auch nicht. Und genauso unstrittig müsste sein: Niemand kann für sich exklusiv in Anspruch nehmen, über die Wahrheit zu verfügen. Das wäre das Ende des Streits um die Wahrheit. In dieser Hinsicht nötigt aber das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche zu kritischen Rückfragen. Der Empörung, die die Verlautbarung der Glaubenskongregation vom 10. Juli ausgelöst hat, hat der Präsident der Schweizer Bischofskonferenz in einem offenen Brief entgegengehalten: Darin sei "gerade nicht gesagt, die reformatorischen Kirchen seien keine Kirchen". Vielmehr werde behauptet, sie seien "nicht Kirchen in dem Sinne, wie die katholische Kirche sich selbst versteht und von ihren Glaubensgrundlagen her verstehen muss". Wenn es nur so wäre! Aber die Verlautbarung begnügt sich gerade nicht mit dieser Ausdrucksweise, sondern schärft die Formel "nicht 'Kirchen' im eigentlichen Sinn" ein. Wer so formuliert, legt offenkundig Wert darauf, die Abhängigkeit der Aussage vom eigenen Standpunkt zu relativieren.
"Ökumene des wechselseitigen Respekts"
Die Überwindung der evangelisch-katholischen Differenzen in der Lehre von der Kirche ist nicht in Sicht. Diese Situation verlangt nach einer "Ökumene des wechselseitigen Respekts".
In den vergangenen hundert Jahren hat es anhaltende, im Kern aber erfolglose Bemühungen gegeben, die evangelisch-katholischen Differenzen im Verständnis der Kirche und der kirchlichen Einheit zu überwinden. Die Nüchternheit des Urteils gebietet es, sich einstweilen auf diese Lage einzustellen und im Geist einer "Ökumene des wechselseitigen Respekts" einen für die Menschen erträglichen Modus Vivendi zu finden. Respekt meint in diesem Zusammenhang: die Differenz als derzeit nicht überbrückbar aushalten, sich aber intensiv darum bemühen, die Auffassung der anderen Seite zu verstehen, und von ihr nichts verlangen, was sie ohne Preisgabe ihrer grundsätzlichen Überzeugungen derzeit nicht einräumen kann. Eine Ökumene des wechselseitigen Respekts schließt im Übrigen Kritik und Widerspruch nicht aus, sondern ein; aber der achtungsvolle Umgang miteinander wird sich auch noch in der Art und Weise zeigen, mit der Kritik geübt und Widerspruch angemeldet wird.