Deutsche Eltern sind lausige Erzieher, heißt es.
Erielle Bakkum
30.11.2010

Mein Sohn hat das dritte Schuljahr auf einer Grundschule in Paris verbracht. Eine der einschneidenden Erfahrungen für mich war die radikal anders geklärte Frage des Territoriums. Die Eltern verabschiedeten sich von ihren Kindern an der Schulpforte. Und damit waren die Kinder auf dem Gelände der Schule, das den Eltern zu betreten nicht in den Sinn gekommen wäre. Nach der Schule erwarteten die Eltern sie wieder an der Pforte, extra muros. Auf dem Schulgelände galt nicht mehr das Gesetz der Eltern, die hier nichts zu suchen und zu sagen hatten. Es war ganz undenkbar, etwa vor dem Unterricht noch mit der Lehrerin zu reden. Als ich am Anfang in Unkenntnis dieser Hoheitsverteilung meinen Sohn in sein Klassenzimmer brachte, wurde ich höflich, aber entschieden vor die Pforte komplimentiert.

Ein französischer Vater, dessen Kind eine Berliner Grundschule besuchte, erzählte mir, er sei von der Lehrerin zu einer Sprechstunde gebeten worden. Diese habe ihr eröffnet, dass sein Sohn während des Unterrichtes stark mit den Füßen scharre und sich nicht richtig konzentriere. Der Vater hat sie dann, sagte er, etwas erstaunt und hilflos angesehen und sie gefragt, warum sie ihm das erzähle. Sie mache doch den Unterricht und nicht er; was er denn da tun solle.

Eltern sind zu Hause für ihre Kinder zuständig, in der Schule sind die Lehrer dran

Ein solches Vertrauen in die Institution, der man die Erziehung der Kinder in die Hände legt, ist in Deutschland selten. Ein deutscher Vater hätte die Botschaft vermutlich sofort verstanden und sich pflichtschuldig gefragt, was denn da in der häuslichen Erziehung schief laufe. Ob er oder seine Frau sich nicht genug um die Kinder kümmerten. Und vermutlich angefangen, über eine Verhaltenstherapie für seinen Sohn oder besser gleich für die ganze Familie nachzudenken. Die französischen Eltern schauen ihren Kindern bei ihrem sicherlich viel härteren Konkurrenzkampf in der Schule mitleidig zu und erinnern sich an ihre eigenen Härten. Sie beugen sich der ebenfalls erlittenen Gewalt und helfen ihnen, so gut sie können. Kein Mensch denkt, dass der Erfolg des Kindes in der Schule ausgerechnet von elterlicher Unterstützung abhinge.

Der Direktor eines Münchener Gymnasiums verkündete dagegen auf einer Informationsveranstaltung, der erfolgreiche Besuch setze nicht nur eine intakte Familie, nein, gar die aktive Unterstützung der Schüler durch die Eltern voraus. Und ein Vater, der zwei Töchter auf einem ambitionierten Münchener Gymnasium hat und dessen Frau nicht berufstätig ist, meinte, dass das anders auch gar nicht ginge. Ohne aktive Unterstützung bei den Schularbeiten durch seine Frau wäre das für die Kinder nicht zu schaffen. Ich fürchte, er hat Recht. Die französische Institution hält die Eltern aus dem schulischen Leben heraus; die deutsche Institution fordert die Erziehungsarbeit in der Familie mehr oder weniger direkt ein.

In den französischen Traktaten zur Erziehung junger Mädchen aus dem 17. und 18. Jahrhundert stößt man hin und wieder auf eine rätselhafte Stelle. Die Mädchen des Bürgertums und des Adels wurden, wenn sie nicht zu Hause von Hauslehrern erzogen wurden, zur Erziehung in Klosterschulen geschickt. Die Eltern durften sie besuchen, etwa einmal im Monat, eine Stunde. Aber diese Besuche wurden von der Schule nicht gerne gesehen; besonders den Besuchen der Mütter gegenüber scheint man misstrauisch gewesen zu sein. So legte man den Mädchen nachdrücklich ans Herz, dass sie Besseres und Wichtigeres zu tun hätten, als mit den Verwöhnungen ihrer Mütter die Zeit zu vertändeln.

Überall in Europa hat sich mit der Entdeckung des Kindes die Erziehung verstärkt in die Familie und im 20. Jahrhundert a fortiori in die Kleinfamilie verlegt. Das protestantische Pfarrhaus, nach dessen Muster alle andern Familien leben sollten, löste die Mutter Kirche ab. Die nun im Schoße der Familie zu leistende Erziehung stand von vornherein unter einem religiösen Anspruch ­ die Seelen der Kinder quasi als Kompensation für die bei ihrer Zeugung empfundene Lust zu Gott zu bringen ­, der sich später in einen moralisch-ethischen wandelte. In diesem Modell werden die Eltern zu Zuchtmeistern, die gegen ihre eigene Zärtlichkeit das Wohl der Kinderseele im Auge haben müssen. Nahm Luther vornehmlich den Vater in die Pflicht, dann liegt die Revolution der pädagogischen Reformer wie Pestalozzi und Fröbel darin, die Mutter zur Erzieherin der Kinder zu machen. An der Erziehung der Mutter hing das Wohl und Wehe des Kindes. Der Mann sollte dabei als das älteste der Kinder gleich mit erzogen werden.

Diese pädagogische Aufgabe konnte die Mutter nicht auf sich allein gestellt leisten. Mutter wurde man nicht durch Geburt, auch zur Mutter musste man gemacht, erzogen werden. Bei der Herzensbildung ihrer Kinder stand der Mutter ein Pädagoge zur Seite. Obwohl ihr die Fähigkeit zur Erziehung angeboren war, konnte sie sich erst und nur durch die Hilfe des Pädagogen entfalten. Bis heute haftet den Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen etwas von Aufbewahranstalt an, in die eben nur die Kinder gehen müssen, deren Mütter sich nicht um sie kümmern.

In keinem anderen Land Europas ist die soziale Herkunft der Schüler so folgenreich

In Deutschland ging die Erziehung der Kinder im Schoße der Familie von vornherein mit einer Erziehung der Eltern oder ­ im pädagogischen Zeitalter ­ der Mütter Hand in Hand. Und von vornherein wurde die Notwendigkeit dieser Erziehung vor dem apokalyptischen Szenario eines Unterganges der Gesellschaft heraufbeschworen, in der Erziehungskatastrophen, Erziehungschaos und ähnliche Alpträume herrschen. Wenn jetzt gefordert wird, die Eltern müssten, notfalls mit sanftem Druck, in Elternkursen zu besseren Eltern erzogen werden, oder wenn sie freiwillig die Notwendigkeit verspüren, sich pädagogischer Hilfe zu versichern, steht das ganz in dieser Tradition, die Kindererziehung und Elternerziehung unter pädagogischer Fuchtel immer als ein Doppelprojekt sah. Die Schule ist in dieser Perspektive Annex des Elternhauses. Erfolg oder Misserfolg des Kindes hängen vom pädagogischen Einsatz der Eltern ab. So nimmt es wenig wunder, dass in keinem anderen europäischen Land Schulerfolg und soziale Herkunft so eng aneinander gekoppelt sind wie in Deutschland ­ das ist das vielleicht eindrucksvollste Ergebnis der Pisastudien. Was aber war die unmittelbare und vollkommen paradoxe Reaktion auf die Pisastudie? Die Eltern wurden in die Schule bestellt, um sich einen pädagogischen Film anzusehen, der sie aufforderte, darauf zu achten, dass ihre Sprösslinge mehr lesen ­ was die Eltern, die da saßen, sowieso taten. Nicht die Schule, das Elternhaus hatte versagt, schloss man messerscharf aus Pisa, und hier musste angesetzt werden. Den Kindern, denen die Eltern nicht helfen, kann hierzulande anscheinend sowieso niemand helfen.

Deswegen stehen die Eltern der bürgerlichen Mittelklasse ­ die, die alle lernen wollen, besser zu erziehen ­ in der eigentlich unhaltbaren Position, zwar nicht mehr für das Seelenheil ihrer Kinder, wohl aber für deren irdisches Heil mitverantwortlich zu sein. Sie müssen, nolens volens, die schulische Autorität mit verkörpern, statt sie solidarisch mit ihren Kindern zu erleiden. Kein Wunder, dass dies das Alltagsleben nicht gerade entlastet. Sollte man nicht auch hierzulande der Schule geben, was der Schule ist, und ihr die Erziehung übertragen? Die Kinder an der Schulpforte verabschieden? Ein bisschen mehr Vertrauen in die Institutionen entwickeln, die dann auch ein besseres Selbstbewusstsein ausbilden könnten? Den schwarzen Peter nicht dauernd zwischen Elternhaus und Schule hin- und herschieben? Dann würde vielleicht auch endlich einmal den Kindern geholfen, denen sonst keiner hilft. Dann müssten wir nicht als Aushilfslehrer für unsere Kinder leben, denen womöglich noch droht, die Bank irgendwelcher Elternschulen drücken zu müssen, sondern wir könnten unser eigenes Leben führen. In einer so entlasteten Erziehung, in der die Verantwortlichkeiten klarer verteilt wären, könnten wir uns auf das Beibringen guter Manieren beschränken, die das Zusammenleben erst erträglich machen, und uns die Kinder hin und wieder vom Leibe halten. Wir könnten sie aber auch, einer mütterlichen Schwäche nachgebend, manchmal unbedenklich verwöhnen und verzärteln, ganz einfach sinnlos lieben.

 

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