Es ist nicht lange her, da saß ich bei Freunden in Hamburg und zappte mich fasziniert durch das Vorabendprogramm. Ich bekenne: Ich besitze seit Jahren keinen Fernseher und entsprechend fasziniert reagierte ich auf die Invasion der Kochshows. Auf allen Kanälen brutzelte es, buk, briet, brodelte und schmorte. Die Republik im Kochwahn. Wir sahen schließlich eine Sendung, in der sich Menschen unter erheblichen Schwierigkeiten bemühten, Menüs zusammenzustellen. Töpfe kippten um, Pasta verkochte, Saucen brannten an. Einer setzte beinah den Nachtisch in Brand. "Was habt ihr eigentlich in der DDR so gegessen?", wandte sich einer der Freunde interessiert an mich. "Stullen", antwortete ich ohne zu zögern.
Stullen waren die eigentliche Grundnahrung in der DDR
Dieser Witz entbehrt nicht einer gewissen Wahrheit. Stullen waren tatsächlich die eigentliche Grundnahrung in der DDR. Man aß sie zum Frühstück, in Pausen, beim Abendessen. Bei uns an der Ostsee wurde belegtes Brot sogar zum Kaffee gereicht. Was Marcel Proust seine Madeleines, ist mir der Geschmack von Teewurstschnitten, in süßen Mocca Fix getaucht.
Was trägt der Osten bei zum Menü der deutschen Einheit? Gar nichts, würde ich behaupten. Denn auch, wenn in letzter Zeit oft etwas anderes behauptet wird: Es gab keine eigenständige DDR-Küche. Ketwurst und Grilletta waren billige Fastfood-Plagiate, keine kulinarischen Innovationen. Mehr als Jägerschnitzel, panierte Jagdwurstscheiben und Würzfleisch, eine vereinfachte Ra-gout-fin-Variante, hat der Osten rezepttechnisch nicht mit in die Wiedervereinigung gebracht. Wir aßen sehr althergebracht in unserer kleinen Diktatur, einheimisch eben - und wir haben diese Gewohnheit mangels Außeneinflüssen länger konserviert als der freie Westen. Denn das Modell "morgens Stullen, abends Stullen, zwischendurch ein Fleischgericht" hat nichts mit Kreativität oder notorischer Unterversorgung zu tun: Es ist in erster Linie klassisch deutsch. Wie das allermeiste, das wir in der DDR 40 Jahre lang verzehrten. Von Strammer Max bis Schnitzel könnte alles direkt aus Uromas Kochbuch entsprungen sein. Selbst die sagenhafte Stulle - typisch teutonisch. Mittags nahm man zu Hause, in Schulen und Betrieben Königsberger Klopse zu sich, Kotelett, Kasseler (Honeckers Lieblingsessen), Frikassee, Blutwurst mit Sauerkraut, gefüllte Paprikaschoten, Kohlrouladen, Buletten, eingelegten Hering, Rosenkohl, Blumenkohl, Wirsingkohl. Freitags gab es Fisch, Weihnachten Gans, Silvester Karpfen blau. Das Exotischste, an das ich mich erinnern kann, war Käse mit Marmelade oder Harzer Roller mit Senf und Apfelscheiben. Beides aufs Brot (quod erat demonstrandum).
Die größte Veränderung ist nicht was ich esse, sondern wie
Heute kippe ich selbstverständlich Aceto Balsamico auf Rucola (statt Tafelessig auf Linsen), und gemessen an Gewürzen geht es in meiner Küche zu wie in der Kantine der Vereinten Nationen, doch die größte Veränderung zu früher besteht nicht in dem, was ich esse, sondern darin, auf welche Weise ich esse.
Ich kann mich genau erinnern, wie sehr es mich bei meinem ersten Frankreichbesuch im Februar 1990, noch mit Visum und DDR-Pass, verblüffte, dass die Franzosen zwei Mal am Tag warm essen. Mittags und abends. Das doppelte "Mittag" und ein Leben ohne Stullen waren an sich schon erstaunlich genug, doch wie die Franzosen unser zielorientiertes, deutsches Abendbrot ersetzten, gab mir den Rest. Jedes noch so durchschnittliche Abendessen hatte mehrere Gänge und zog sich über Stunden hin. Täglich. Eigentlich verbrachte man den ganzen Abend damit zu speisen. Das kannte ich überhaupt nicht.
Gesellig war man auch in der DDR, sehr sogar. Meine Eltern hatten immer Besuch. Aber man aß nicht, sondern trank gemeinsam. Geburten, Verlobungen, Versöhnungen wurden nicht mit einem Essen begangen, sondern begossen. Ohne eine Flasche Schnaps oder einen Rotwein bei Freunden aufzutauchen galt als unhöflich. Woanders einfach mitzuessen allerdings wurde als Störung empfunden. Mahlzeiten nahm man in der Regel alleine ein, in Familie, bevor man sich mit anderen traf. Daran änderte auch das heute so gern gelobte solidarische Zusammenrücken (das im Grunde nichts anderes als Eine-Hand-wäscht-die-andere-Unkultur war) nichts. Man schloss sich nicht aus, man kam nur gar nicht auf die Idee. Essen hatte einfach keine soziale Komponente, nicht einmal an Feiertagen, wo der Festbraten selbstverständlich Teil der Familieninszenierung war oder bei offiziellen Anlässen mit Buffet und Tanzkapelle. Die eigentliche Party begann stets erst beim Knallen der Korken. Dann aber richtig!
Die vielzitierte "Sättigungsbeilage"
Doch Vorsicht, dass bedeutete keineswegs, dass man in der DDR spartanisch oder ohne Spaß aß. Die vielzitierte "Sättigungsbeilage" bringt lediglich das auf Funktion reduzierte Wesen des Staates in seiner Genussfeindlichkeit auf den Punkt, nicht aber die ausgewiesene Sinnesfreude der Menschen, die dort leben mussten. Im Gegenteil, man nährte sich fett und üppig - es ging dabei nur nicht um ein gesellschaftliches Miteinander. Ich weiß noch genau, dass Mitte der achtziger Jahre eine Zeit lang ein befreundeter Schriftsteller häufiger unangemeldet bei uns zum Abendessen auftauchte - und natürlich teilten wir jedes Mal gern Brot und Tee mit ihm. Aber die Angewohnheit, einfach zum Essen hereinzuschneien, war so kurios, dass sie meinen Eltern wiederholt eine Anekdote wert war.
Das ist heute ganz anders. Ohne Wein kann man problemlos zu einer Einladung am Abend gehen - kein warmes Essen anzubieten ist für den Gastgeber dagegen schon anstößiger. Verabredungen vor 21 Uhr sind in der Regel mit einem Restaurantbesuch oder gemeinsamem Kochen verbunden. Das muss man nicht extra erwähnen. Ich genieße das sehr. Zumal man auch weniger trinkt, wenn der Mund dauernd mit Kauen beschäftigt ist ...
Wir haben uns verändert - mit unseren Essgewohnheiten. Demografische Erhebungen zeigen, dass abwechslungsreiche, gesunde Ernährung neben Bildung und Sprache zu einer wichtigen Statusfrage avanciert ist. "Wir sind, was wir essen", schrieb der "Stern" vor einiger Zeit. Wenn das stimmt, dann sind wir kulinarisch vor allem eins: endlich ein Volk. Denn dass die Nation das Fernsehkochen entdeckt hat, ist nur der letzte mediale Beweis für eine Entwicklung, die wir längst in unseren eigenen Pfannen dampfen sehen. Deutsche Küche ist Folklore und man toleriert sie, wenn überhaupt, nur noch in der dörflichen Gastronomie. Stattdessen essen wir lieber leicht und mediterran. Oder asiatisch. Oder makrobiotisch. Oder alles zusammen - und das gleichermaßen an Oder wie Isar.
Rucola hieß 1990 noch Rauke und war Unkraut
Wir sind alle selben, spießigen Ursprungs - auch in der BRD wurde noch lange in alter Tradition gegessen. Lasagne und Gyros gab es dort zwar eher als bei uns, aber sie tauchten nur gelegentlich zwischen Hausmannskost und in Scheiben geschnittenem Brot auf. Ausufernde Abendessen wie heute, fröhliche Tafelrunden bis in den Morgen mit Trüffelöl auf Carpaccio und thailändischen Hühnercurrys sind für den Westen genauso neu wie für den Osten. Am Rhein wie auf Rügen hieß Rucola 1990 noch Rauke und war Unkraut. Hier wie dort trank man nicht literweise Wasser, verkochte kein Olivenöl und hätte bei Sambal Oelek nicht auf Anhieb sagen können, ob es sich dabei um kenianische Brustsalbe oder doch eher um eine Tröpfcheninfektion handelt. So verschieden wir sind, so sehr die lange Teilung des Landes uns kulturell voneinander entfernt hat, beim Essen waren wir nie wirklich entzweit. Die ganze neue Kocherei, nicht im Restaurant, sondern am eigenen Herd, der um sich greifende Biokonsum, stundenlanges Essen im Kreise anderer - das ist für uns alle ein Segen. Wir sind gemeinsam angekommen in der globalen Küche. Ich finde diesen Umstand versöhnlich. Es gibt viel, das uns verbindet.
Gerade erst las ich im Internet die Reklame für ein DDR-Kochbuch: "Die DDR mag nicht mehr existieren - lassen Sie doch ihre Küche wieder lebendig werden." Dazu fallen mir nur drei Sachen ein. Erstens: Die DDR mag nicht nur nicht mehr existieren, sie EXISTIERT nicht mehr. Zweitens: Gott sei Dank! Und drittens: Lasst die deutsche Stullenwirtschaft bitte nicht wieder aufleben! Es ist gut, wie es ist. Weltoffenheit am Herd, Weltoffenheit im Kopf. Irgendwo auf der Erde ist immer Sommer.