Ich bin jetzt 58. In Ruanda ist man damit ein alter Mann. Denn Männer meines Jahrgangs haben hier eine Lebenserwartung von 49 Jahren. Aber ich habe noch viel vor mit meinem Leben! Ich habe fast alles verloren, aber nie meine Zuversicht.
Als die Unruhen in Ruanda begannen, war ich 36. Meine Frau und ich hatten vier Kinder. Ich hatte einen Hilfsjob als Portier im Gästehaus der evangelischen Kirche in Kigali. Wir gehören der Volksgruppe der Tutsi an. Ab April 1994 haben sie Tutsi aus den Häusern geholt und umgebracht. Deswegen versteckte ich meine Familie im Gästehaus und fälschte den Stempel in meinem Pass in "Hutu". Am 7. April kamen die ersten Milizen, sie sagten: "Der Stempel in deinem Pass ist falsch! Wir kommen wieder."
Die nächsten Tage waren furchtbar. Unsere Kinder Maurice, 9, Justinien, 5, und Justus, 3, weinten die ganze Zeit, weil sie draußen Gewehrschüsse hörten und das Jammern von Menschen, die mit Macheten umgebracht wurden. Meine Frau und ich waren verzweifelt. Dann beschlossen wir, alle Kinder in die ehemalige Missionsstation nach Remera zu bringen, eine knappe Stunde von der Hauptstadt entfernt. Eine Kollegin besorgte einen Kleinbus und brachte die Kinder hin. Als sie zurückkam, hatte sie keine guten Nachrichten: Links und rechts der Hauptstraße lägen Leichenberge. Wir beteten, dass unsere drei Großen in Remera trotzdem sicher seien; den zweijährigen Darius haben wir bei uns im Gästehaus behalten.
Am Pfingstmontag kam ein Händler aus Remera und sagte: "Sie sind alle tot!" Unsere Kinder hatten sich mit zehn Pastoren in einer Schule versteckt, aber die Hutu haben alle getötet und in einen Graben geworfen. Wir machten uns solche Vorwürfe! Unsere Ehe wurde schwierig. Die Tage danach waren wie eine einzige dunkle Nacht. Meine Frau und ich versuchten, uns mit Darius zum Hôtel des Mille Collines durchzuschlagen, der Manager dort versteckte Hunderte Tutsi – später wurde der Kinofilm "Hotel Ruanda" dazu gedreht. Das Hotel liegt nur 500 Meter vom evangelischen Gästehaus entfernt, aber wir scheiterten an einer Straßensperre und mussten umdrehen. Am 4. Juli war der Krieg zu Ende.
Wir sind fromme Leute, aber ich habe mit meinem Glauben gehadert. Gott, warum hast du mich als Tutsi geschaffen? Gott, warum hast du das Gemetzel nicht gestoppt? In der Kirche konnte ich nicht zuhören, wenn ein Hutu predigte. Wie er den Mund bewegte! Wie ein Hutu seine Fanta-Flasche aufmachte!
Die Kirche hat hier einen guten Job gemacht, wir haben Seminare besucht, gesungen, gebetet. Die Hutu haben immer wieder ihre Schuld bekannt, auch die im Gefängnis. Irgendwann konnte ich tatsächlich wieder neben einem Hutu in der Kirchenbank sitzen und im Chor singen. Rache muss überwunden werden.
Ich finde: Jetzt sind wir Eltern noch mal dran
1995 adoptierten meine Frau und ich bei einem Besuch im Waisenhaus von Gikondo das Hutu-Mädchen Ingabire. Kinder sind unschuldig, und nicht alle Hutu waren böse Leute. Ingabire blieb fünf Jahre bei uns, dann musste sie ihre todkranke Tante pflegen. Heute ist Ingabire Mutter von drei Kindern und geschieden. Wir nahmen auch noch zwei Kinder in Pflege, deren Väter inhaftiert waren, Mukamana und Ndahimana. Beide haben immerhin den Realschulabschluss geschafft, wir hätten ihnen gerne auch das Abitur ermöglicht, aber dafür reichen leider unsere Mittel nicht.
Und 1999, es war wie ein Wunder, wurde uns noch ein eigenes Kind geschenkt: Justine. Fast alle meine Kinder tragen Namen, in denen "juste" steckt, das französische Wort für "gerecht". Jetzt sind alle groß. Darius wird Bauingenieur, Justine studiert Business Administration. Ich finde: Jetzt sind wir Eltern noch mal dran. Ich habe am Abendgymnasium einen Kurs in Buchführung gemacht, meine Frau in Hauswirtschaft. Und jetzt habe ich sogar meinen Bachelor in Betriebswirtschaft geschafft. Nun muss ich noch mein Englisch auf Vordermann bringen, die Amtssprache ist ja nicht mehr Französisch.
Ich möchte als Berater in der Wirtschaft arbeiten und so viel Geld verdienen, dass ich endlich mein Haus fertig bauen kann. Es steht halb fertig da, als Buchhalter bei der Kirche verdiene ich wenig. Was heißt schon alt! Ich habe noch was vor mit meinem Leben. Und ich bete, dass wir in Frieden leben können.
Protokoll: Ursula Ott