chrismon: Wer sind die überlebenden Opfer von NS-Verfolgung?
Ragna Vogel: Eine sehr große Gruppe sind ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. Auch die Kinder, die während der Zwangsarbeit der Eltern auf die Welt kamen. Dann gehören dazu natürlich die Überlebenden von KZ und anderen Lagern. Außerdem jüdische Überlebende. Speziell die jüdischen Minderjährigen, die im Versteck überlebt haben. Dazu die einstigen sowjetischen Kriegsgefangenen und die Roma.
Die wurden von der Wehrmacht verfolgt?
Teilweise von der Wehrmacht, oft von SS oder Gestapo, aber auch von den Danach-Kommenden, als die Front weitergezogen war: Zivilverwaltung und Polizei, kooperierend auch mit einheimischen Einheiten. In enger Zusammenarbeit wurden die "Säuberungen" vorgenommen: Sofort wurden alle jüdischen Bewohner in der Stadt versammelt, Roma ausfindig gemacht, psychiatrische Kliniken geleert …
Wie geht es den Überlebenden gerade?
Sie sind fassungslos darüber, dass sie in ihrem Leben noch mal einen Krieg erleben müssen - mit regelmäßigem Luftalarm und Zerstörung der Städte. Der Krieg ist nicht zu vergleichen mit damals, aber er erinnert sie, es kommt ganz viel wieder hoch. Die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aus dem "Osten", die in Deutschland waren, durften bei Luftalarm nicht in die Luftschutzkeller und die Bunker gehen. Jetzt dürften sie gehen, aber können nicht mehr. Ich habe mit einigen telefoniert, die sagten: Ich kann nicht mehrmals am Tag die Treppen hoch und runter, das schaff ich nicht mehr, ich bleib oben und hoffe, dass nichts kommt. Sie sind plötzlich in einer gefühlt ähnlichen Lage, wie sie sie schon mal erlebt haben.
Ausgeliefert?
Genau. Der Gesprächsbedarf ist deutlich angestiegen. Das berichten uns unsere Partnerinnen vor Ort, es sind ja meistens Frauen, die engagiert sind in lokalen Opferverbänden oder in jüdischen Gemeinden. Viel Kontakt läuft über Telefon, gerade bei den Alten, die nicht mehr zu Treffen kommen können. Die Menschen wollen über ihre Ängste sprechen und erzählen, was sie damals erlebt haben.
Ragna Vogel
Christine Holch
Wie viele Überlebende von NS-Verbrechen gibt es noch in der Ukraine, und wie vielen konnten Sie bisher helfen?
Wir schätzen knapp 40.000 Menschen. Und konkret geholfen haben wir knapp 1000 Überlebenden - wir haben ihnen direkt Geld geschickt, oder wir haben Partnerorganisationen Geld gegeben, damit sie ihnen zum Beispiel Medikamente kaufen. Weiteren über 1800 Menschen konnten wir im Winter über unsere Partner Decken, warme Kleidung, Lampen, Nahrungsmittel, Hygieneartikel zukommen lassen.
Und was sind das für Patenschaften, die man jetzt auch übernehmen kann?
Die einmaligen Hilfen sind gut, aber eine Patenschaft bietet den Menschen eben das Gefühl von Sicherheit, dass für das Notwendigste gesorgt ist. 100 Personen werden jetzt regelmäßig unterstützt mit einer Patenschaft von monatlich 40 Euro.
Wie sind Sie gerade auf 40 Euro gekommen?
Das haben wir mit unseren Partnern diskutiert. Die Summe sollte so niedrig sein, dass wir möglichst vielen Menschen helfen können, aber sie sollte auch so hoch sein, dass zusammen mit der Rente - im Schnitt 100 Euro - für das Allernotwendigste gesorgt ist. Wenn jemand allerdings bettlägerig und pflegebedürftig ist, reicht das nicht. Gerade weil Hygieneartikel unglaublich teuer geworden sind. Für Erwachsenenwindeln muss man im Monat mit rund 50 Euro rechnen.
Ist das eine persönliche Patenschaft, zum Beispiel für eine Ludmila oder einen Oleg in Donezk?
Nein, verwaltungsmäßig wäre das viel zu aufwendig, das würden wir nicht stemmen können, direkte Patenschaften zu vermitteln. Die Spenden kommen in einen Topf, so sind wir flexibel. Zum Beispiel, wenn jemand stirbt. Dann kommt jemand anderes auf die Liste. Und so kann man sich auch mit zehn Euro pro Monat beteiligen. Denn natürlich brauchen noch viel mehr Überlebende von NS-Verfolgung solch eine verlässliche Unterstützung.
Infos und Spenden: https://hilfsnetzwerk-nsverfolgte.de/