Nach Hause oder nicht? Das ist die Frage des Tages. Shekiba und die anderen Kinder sitzen im Speisesaal, es gibt Spaghetti Bolognese und zum Nachtisch Erdbeerquark, Lieblingsessen. Aufgeregtes Gemurmel, Gerüchte gehen um. Wer ist gesund genug für den Heimflug – und wer muss noch länger bleiben? Gleich geben es die Erwachsenen bekannt. Rabina weiß es schon, sie lächelt. Es ist Ende September 2020, die Jungen und Mädchen, die hier zusammensitzen, haben viel geschafft. Sie haben Operationen überstanden und Schmerzen ausgehalten, Tausende Kilometer entfernt von ihren Familien. Shekiba hofft sehr, dass sie mit Rabina nach Kabul fliegen kann, sie hat doch solches Heimweh!
Shekiba Azimi, zehn Jahre alt, zierlich und scheu, kommt am 12. Februar 2020 in Düsseldorf an, Flug SZ-2101 der tadschikischen Fluggesellschaft Somon Air. An Bord: 74 versehrte Jungen und Mädchen aus Afghanistan, Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan. Ein kalter Wind pfeift über die Landebahn, es hat knapp über null Grad.
Krankenwagen und Linienbusse fahren aufs Rollfeld, Sanitäterinnen und Helfer in Warnwesten tragen warm eingewickelte Kinder die Gangway hinunter, auch Shekiba. Sie hat starke Schmerzen im linken Bein und kann ohne ihre Holzkrücken nicht laufen. Manche Kinder haben vernarbte Gesichter, verdrehte Füße, verbundene Arme oder verkürzte Beine; manche weinen.
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Am Flughafen muss alles ganz schnell gehen, jeder Handgriff sitzt, die Helfer:innen verteilen die Kinder auf die Busse und Krankenwagen. Einige werden direkt in Kliniken nach Franken, in die Eifel, an die Ostsee und ins Ruhrgebiet gebracht, je nachdem, wo Krankenhäuser eine Behandlung zugesichert haben. Die anderen fahren erst mal ins Friedensdorf, es liegt eine halbe Stunde entfernt zwischen Oberhausen und Dinslaken.
Seit über 50 Jahren fliegt die Hilfsorganisation pro Jahr 250 bis 300 versehrte Kinder von zwei bis zwölf Jahren aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland. Sie bleiben ein halbes Jahr oder auch länger im Friedensdorf. In ihren Heimatländern kann ihnen nicht geholfen werden, weil die medizinische Versorgung miserabel, unbezahlbar oder gar nicht erst vorhanden ist.
Der Morgen nach dem Flug: Shekiba liegt in einem Isolierzimmer der Chirurgie im Gerolsteiner St.-Elisabeth-Klinikum und spielt mit den Fernsehkopfhörern. Sie trägt eine rot-schwarze Wollmütze und einen schwarzen Schal, den ihre Eltern ihr mitgegeben haben. Sie stammt aus Herat im westlichen Afghanistan. Dort lebt sie mit ihren Eltern, ihrer Schwester und ihren drei Brüdern. Argwöhnisch beobachtet das Mädchen die Leute, die in Infektionsschutzkleidung mit Haube, Einweghandschuhen und Mundschutz das Zimmer betreten. Deutsch versteht sie nicht. Aber die Zeichensprache, die die Mitarbeiter:innen des Friedensdorfs den Kindern auf dem Flug beigebracht haben: Daumen nach oben heißt "Ich muss Pipi", die geschlossenen Fingerspitzen zum Mund führen steht für "Hunger", und wenn ein Kind beide Hände mit gespreizten Fingern übereinanderlegt, signalisiert es Schmerzen.
Shekiba humpelt auf Holzkrücken durch ihr Zimmer, ihr Vater hat sie geschreinert. In der Nacht hat sie viel geweint und nach ihren Eltern gerufen. Rabina aus dem Nachbarzimmer hat sie getröstet. Auch sie ist ein afghanisches Mädchen aus dem Friedensdorf. "Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht weinen muss. Ihre Eltern wissen, dass sie hier ist und dass es im Friedensdorf schön ist, weil da viele Kinder sind." Rabina, zwölf Jahre alt, ein ruhiges, selbstbewusstes Mädchen, hat eine tiefe, raue Stimme und wirkt reif für ihr Alter. Sie ist seit über einem Jahr in Deutschland, spricht fast fließend Deutsch und übersetzt für Shekiba. "In der ersten Woche habe ich auch viel geweint", sagt sie. Dann habe sie sich an die neue Situation gewöhnt. Neun Operationen musste sie schon überstehen. "Aber wenn ich in Afghanistan geblieben wäre, hätten sie mir das Bein abgenommen." Jetzt kann sie fast wieder normal laufen.
"Wir können hier mit einfachen Mitteln gut helfen" - Chefarzt Andreas Leffler
Einen Tag später steht Shekibas Befund fest: hämatogene Osteomyelitis, Knochenentzündung, ausgelöst vermutlich durch eine verschleppte Mandelentzündung. Unbehandelt kann eine solche Infektion zu Fehlstellungen oder Verkürzungen der Gliedmaßen führen, im schlimmsten Fall durch eine Blutvergiftung zum Tod. Die Zusammenarbeit der Gerolsteiner Klinik mit dem Friedensdorf geht auf den Chefarzt Andreas Leffler zurück. Der 49-Jährige arbeitete lange als Militärchirurg, unter anderem in Afghanistan. "Ich weiß, wie es da medizinisch zugeht", sagt er. "Wir können hier mit einfachen Mitteln gut helfen. Das machen wir zu 100 Prozent aus einem christlichen Verständnis." Und pro bono: Die Kliniken tragen die Kosten für Zimmer, Narkose, Operation. Ehrenamtliche helfen bei der Betreuung. Es werde, sagt der Leiter des Friedensdorfs, Kevin Dahlbruch, immer schwieriger, freie Betten für die Kinder zu finden.
Shekiba bleibt nicht lange in Gerolstein, ihr Heimweh ist groß, sie weint viel. Als sie eines Nachts versucht, aus dem Fenster zu klettern, schicken die Ärzte sie ins Friedensdorf. Erst mal eingewöhnen. Das "Friedensdorf" – das sind viele Gebäude mit Schlafräumen, Rehazentrum, Klassenzimmern, einem großen Speisesaal. Die Wände zieren bunte Bilder und Basteleien von Generationen von Kindern. Überall liest man das Wort "Friede" – auf Portugiesisch, Dari, Englisch, Persisch und Deutsch. Draußen Sport-, Tobe- und Spielplätze, Feldrandlage.
Am 6. März wird Shekiba in Gerolstein operiert und am 26. März in Bitburg. Zunächst wird der befallene Abschnitt des Knochens "ausgelöffelt". Die Ärzte bohren den Knochen auf, entnehmen Proben und lassen den Keim im Labor bestimmen. Dann legen sie Antibiotika-Ketten in die offene Stelle, um einen erneuten Ausbruch der Entzündung zu verhindern.
Später werden die Ketten entfernt, der Knochen wird ausgespült und die Prozedur wiederholt. Der Knochen bildet sich mit der Zeit neu. "Das ist gut behandelbar", erklärt Chefarzt Leffler. "Häufig kann man so die Entzündung zur Ausheilung bringen und folgenschweres Fehlwachstum der Extremität oder gar den Verlust einer Gliedmaße verhindern." Im Mai wird Shekiba erneut operiert, einen Teil ihres Schienbeins ersetzen die Ärzte durch eine ihrer Rippen, darüber setzen sie eine Metallplatte, um das Bein zu stabilisieren.
Kurz nach Shekibas Ankunft verändert die Corona-Pandemie auch die Situation im Friedensdorf. Keine Besuche mehr von Schulklassen und Spendern; die Kurse in Mathe oder Deutsch, die freiwillige Helfer geben, finden vorläufig nicht statt; die Mitarbeiter arbeiten in drei Schichten und messen bei den Kindern täglich Fieber. Und: Es gibt keine regelmäßigen Flüge mehr nach Afghanistan, Angola, Tadschikistan – der gravierendste Einschnitt. Noch im Spätsommer ist unklar, wann die gesunden Kinder nach Hause können. Neue Patienten nimmt das Dorf erst mal nicht auf.
"Die Eltern vertrauen uns, und die Deutschen haben einen guten Ruf" - Abdul Marouf Niazi, afghanischer Arzt
Die aktuelle Lage rührt an einem Trauma des Friedensdorfs. Im Dezember 1967 kamen die ersten Kinder aus Vietnam, viele litten unter Napalm-Verbrennungen. Als der Krieg 1975 mit dem Sieg Nordvietnams endete, verweigerten die neuen Machthaber den südvietnamesischen Kindern die Rückkehr. Sie strandeten im Friedensdorf. Dort war man bis in die 1980er Jahre damit beschäftigt, die Kinder zu betreuen und unterzubringen. Seither lässt sich die Organisation Rückführgarantien der Herkunftsländer ausstellen. Außerdem versucht das Friedensdorf, politisch und religiös neutral zu bleiben. So will man Schwierigkeiten mit Familien, Behörden und Religionsvertretern in den Herkunftsländern vermeiden. Das Dorf feiert keine religiösen Feiertage, kein Weihnachten, kein Zuckerfest, sondern ein Friedensfest zum Jahresende.
Die Auswahl der Kinder treffen langjährige Partner vor Ort. In Afghanistan ist das Abdul Marouf Niazi, von allen nur Doktor Marouf genannt. Der rundliche ältere Herr mit langem weißem Kinnbart strahlt große Ruhe aus. Er begleitet jeden Flug von Kabul nach Deutschland. "Die Eltern vertrauen uns, und die Deutschen haben einen guten Ruf", sagt er auf Englisch. Über ein Netzwerk aus Ärzten hält Marouf Kontakt in jede Provinz. So erfährt er von passenden Kindern.
3. August 2020. Shekiba hat die Operationen gut überstanden, nun läuft die Reha im Dorf. Mittlerweile spricht sie ein wenig Deutsch. Die Holzkrücken ihres Vaters hat sie gegen orthopädische Gehhilfen eingetauscht. Fröhlich humpelt sie durch den Garten, schaukelt und rutscht mit ihren Freundinnen.
"Es gibt die Kinder, die sofort Anschluss finden und sich wie zu Hause fühlen. Und es gibt Kinder, die Schwierigkeiten haben – wie Shekiba", erzählt Mahnaz Javadieh. Die 53-Jährige ist seit sechs Jahren Pflegerin und Erzieherin im Friedensdorf. Sie betreut etwa 50 Mädchen. Morgens weckt sie die Kinder, achtet darauf, dass die Betten gemacht, die Zähne geputzt und die Haare gekämmt sind. Sie misst Fieber, cremt vernarbte Haut ein, wechselt nasse Bettwäsche und packt die Taschen für Klinikbesuche. Außerdem verteilt sie Umarmungen und hört zu. "Als Shekiba in der Klinik war, habe ich sie am Telefon beruhigt."
"Anfangs habe ich geweint, wenn meine Lieblingskinder wieder flogen" - Mahnaz Javadieh, Pflegerin
Pflegerinnen wie Javadieh sorgen dafür, dass die Kinder sich im Friedensdorf wohlfühlen. Gleichzeitig dürfen sie nicht zur Ersatzmama werden. Wie schafft man diese Balance? Die Kinder wissen, dass sie zu ihren Familien zurückkehren werden. So entstehen keine falschen Hoffnungen. Die Umstände, unter denen sie im Friedensdorf leben, sollen nah an denen zu Hause sein: gemeinsames Essen in großer Runde; die Kinder dürfen sich in ihrer Muttersprache unterhalten; sie schlafen zu viert in schlichten Zimmern.
"Anfangs habe ich geweint und gefiebert, wenn meine Lieblingskinder wieder flogen", erzählt Javadieh. "Dann habe ich gemerkt: Wenn ich diesen Job machen möchte, muss ich wissen, dass die Kinder irgendwann gesund sind und nach Hause gehen. Sie sind nur in der Zeit hier ‚meine‘ Kinder, und irgendwann sehe ich sie wieder, hoffe ich."
"Kinder brauchen Nestwärme", sagt auch Katrin Huskamp, Chirurgin und Leiterin der Reha im Friedensdorf. Ihr ist bewusst, dass der Aufenthalt hier für viele der kleinen Patienten nicht immer leicht ist. "Tapfer sein bedeutet im Friedensdorf etwas ganz anderes als bei Kindern in Deutschland."
So haben die Kinder nur Briefkontakt zu ihren Eltern. Es ist eine pragmatische Lösung: Manche Familien leben abgelegen, ohne Mobiltelefon und Internet. Damit es fair zugeht, sind nur Briefe erlaubt. Außerdem soll das Heimweh nicht durch ständige Anrufe verstärkt werden. Kann man es verantworten, die Kinder monatelang von ihren Familien zu trennen? Kevin Dahlbruch, Leiter des Friedensdorfs, hat dafür eine einfache Antwort: "Wir machen das nur, weil es funktioniert. Wir haben in allen Altersstufen gemerkt, dass eine Reintegration zu Hause klappt. Es wird schwerer, je länger die Kinder hier sind", sagt er. "Wenn wir irgendwann merken, dass wir Kinder zwar körperlich heilen, aber ihre Seele dadurch krank wird, wäre es nicht mehr verantwortbar."
Durch die Corona-Krise müssen manche Mädchen und Jungen länger als nötig bleiben. Immer wieder fragen sie: "Wann Kinder nach Hause?" Als kurzfristig Plätze für zwei tadschikische Kinder an Bord eines Fluges frei werden und sie überstürzt ihre Taschen packen müssen, bricht unter den anderen Unruhe aus.
Das Taschepacken ist ein wichtiges Ritual im Friedensdorf. Die Kinder dürfen ihre Habseligkeiten und liebgewonnene Kleidung mit nach Hause nehmen. Damit es bei der Abreise nicht zum Chaos kommt, packen sie schon Tage vorher. Als die Geschichte der tadschikischen Kinder die Runde macht, bitten die anderen Kinder die Leitung, ob sie ihre Taschen vorsorglich auch packen dürfen. Dürfen sie.
Michael Güthlein
Dann ist der 22. September. Das Friedensdorf konnte für den folgenden Tag einen Flug nach Afghanistan organisieren – den ersten seit Beginn der Corona-Krise. Im Speisesaal werden die Namen der Heimkehrer verlesen, sie klatschen und trommeln auf die Tische, manche rufen "Nach-Hau-se, nach-Hau-se!" Shekiba wird nicht aufgerufen. Sie blinzelt ihre Tränen weg. Ihre Verletzung ist noch nicht gut genug verheilt, das Metall muss noch aus dem Bein. Sie verkriecht sich unter dem Tisch. Ihre Sitznachbarin versucht, sie zu trösten: "Shekiba nicht weinen." Shekiba flüstert: "Ich will auch."
Am nächsten Tag werden die Kinder verabschiedet. Sie haben sich herausgeputzt: Einige Mädchen tragen Schleifen im Haar und Tücher um den Hals, die Jungs haben Schirmmützen und Sonnenbrillen auf. Sie rufen im Chor: "Ge-won-nen, nach-Hau-se!" In einer kleinen Prozession ziehen sie durch das Friedensdorf, die Mitarbeiter und die anderen Kinder stehen Spalier, winken ihnen zu, manche umarmen sich ein letztes Mal oder flüstern den Mitarbeitern ein "Danke" ins Ohr. Auch Shekiba steht am Rand. Sie hält sich die Augen zu, als die Heimkehrer vorbeilaufen.
14. Oktober: Das Metall in Shekibas Bein wird entfernt, aber ihre Wunde verschlimmert sich. Zwei Wochen später folgt noch eine Operation. Ob sie alles überstanden hat, muss sich zeigen. Mit etwas Glück wird Shekiba Anfang 2021 heimkehren können. Dann wird sie ein paar Zentimeter größer sein, Deutsch sprechen – und ohne Schmerzen gehen.
Friedensdorf International
Das Friedensdorf International wurde 1967 von einer Gruppe Engagierter gegründet, darunter der evangelische Pfarrer Fritz Berghaus. Ziel war es, verwundete Kinder aus dem Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Ländern zu versorgen. Als der Krieg nach kurzer Zeit vorbei war, konzentrierte sich die Organisation auf versehrte Kinder aus Vietnam. In den 1980er Jahren kamen Afghanistan, später Georgien und Angola dazu. In vielen Ländern betreibt die Organisation Basisgesundheitsstationen, um die medizinische Versorgung vor Ort zu verbessern. Das Friedensdorf finanziert sich über Spenden.