chrismon: Was erzählen Sie, wenn die Konferenz vorüber ist?
Mary McAleese: Dass alle Weltreligionen ein Riesenproblem mit Frauen haben. Islam und Christentum übertragen den Virus des Sexismus — obwohl sie diese wunderbare Botschaft der Liebe vermitteln sollen. Es war toll, so viele Frauen zu treffen, die für Gleichheit und Menschlichkeit kämpfen und einen starken Glauben haben. Dies ist nicht die Welt, wie Gott sie will!
Mary McAleese
Ursula Ott
Sie sagten: Der Glaube kann froh sein, wenn er die Religion überlebt …
Ich bin in Belfast aufgewachsen, wo sich Christen bekriegt haben, wie in der Reformation und der Gegenreformation. Menschen, die sich gläubig nannten, haben die Religion als Waffe benutzt. Je mehr Menschen aus anderen Glaubensrichtungen ich kennenlernte, desto mehr Ähnlichkeiten entdeckte ich. Traditionell sagen viele Weltreligionen: Nur unser Weg ist der richtige zu Gott. Das hat uns in Bunker verbannt – eine Religion gegen die andere. Dabei gibt es relativ wenige Unterschiede!
Wie kommen wir aus diesen Bunkern wieder raus?
Nehmen Sie unsere persönliche Lebensgeschichte. Mein Mann und ich durften als Katholiken in Nordirland nicht mal wählen, man bekam keine Wohnung und keinen Job. Vor unserer Haustür wurde gemordet, 4000 Tote, Protestanten kämpften gegen Katholiken, grauenhaft. Man hasste seinen Nachbarn, man hatte Angst vor ihm. Ich musste mich entscheiden: Schließe ich mich dem bewaffneten Widerstand an wie so viele meiner Freunde — dann schreibe ich weiter an diesem Drehbuch voller Gewalt und Morden. Ich entschied mich für den Weg der Versöhnung.
"Ich habe Nächstenliebe eingefordert"
Was hieß das?
Ich wurde als erste Bürgerin von Nordirland zur Präsidentin der Republik Irland gewählt. Und ich schwor mir: Ich werde Brücken bauen. Wenn die sich alle Christen nennen, dann werde ich das Gebot der Nächstenliebe einfordern! Ich will, dass meine Bürger echte Nachbarn werden. Wir fingen selbst damit an, mein Mann und ich. Wir luden Nachbarn zum Tee ein, wir redeten immer erst über Themen, die wir gemeinsam haben. Die Familie, die Kinder, die nächsten Ferien. Ich glaube, wir schafften eine Atmosphäre der "yesness", ich weiß nicht, ob Sie das auf Deutsch übersetzen können. Die Leute kamen immer wieder, wir feierten Nationalfeiertage, und wir waren stolz, dass wir Gewinner und Verlierer dieser historischen Schlachten an einer Teetafel hatten. Leute stellten fest, dass sie zwar heute zerstritten sind, aber ihre Vorfahren miteinander verwandt waren. Geschichte können wir nicht ändern, aber wir können Wunden heilen.
Die Iren führten in den letzten Jahren öffentliche Debatten zu so schweren Themen wie Abtreibung und Homo-Ehe, am Ende gab es Referenden mit großen Mehrheiten. Wie schaffen die das?
Wir Iren können gut miteinander reden. Wir sind sehr gebildet, Irland hat europaweit eine der höchsten Akademikerquoten. Und wir haben alle riesige Familien. Wir treffen uns, Opa hört den vielen Enkeln zu, die Enkel der Oma. Bei den Debatten um Abtreibung und Homo-Ehe – da hörten wir endlich unseren Landsleuten zu, die von gelebtem Leben erzählten, und nicht nur unseren Priestern, die aus Gesetzbüchern vorlasen. Beide Referenden wurden mit deutlichen Mehrheiten pro Abtreibung und pro Homo-Ehe verabschiedet. Von Menschen, die fast alle katholisch getauft sind. 90 Prozent unserer Grundschulen sind katholisch, 60 Prozent der weiterführenden Schulen. Also waren fast alle katholisch erzogen und stimmten in beiden Fällen für Gesetze, von denen ihr Bischof sagte: Stimmt dagegen!
"Ich fühle mich verpflichtet, meine Talente zu nutzen"
Ungehorsam!
Ich wurde als Baby getauft, also wurde mir diese wunderbare Gabe des Glaubens geschenkt. Aber mir wurde auch die Pflicht auferlegt zu gehorchen. Heute, als Juristin, sage ich: Du kannst einem Baby keinen lebenslangen Gehorsam auferlegen. Du kannst ihm nicht sagen: Ich nehme dir das Recht weg auf eigene Meinung.
Schon mal überlegt auszutreten?
Oh ja, einmal am Tag! Aber bedenken Sie: 1,3 Milliarden Menschen gehören der katholischen Kirche an, sie ist mit Abstand die größte NGO auf der Welt. Sie unterhält über 200 000 Schulen mit 60 Millionen Kindern, sie hat einen Sitz mit Beobachterstatus bei der UNO und ist eine der einflussreichsten Institutionen der Welt. Wenn ich austrete, bin ich irrelevant. Wenn ich bleibe, kann ich meine Stimme erheben. Ich bleibe in der Kirche, weil ich hineingeboren und erzogen wurde. Als Staatspräsidentin war ich in Rom, als Juristin habe ich über Kinderrechte promoviert, ich fühle mich verpflichtet, meine Talente zu nutzen, um Strukturen von Sexismus und Korruption in dieser Kirche zu ändern. Die müssen sich ändern! Sonst werden 1,3 Milliarden Menschen auf der Welt weiter von Dummheit und Korruption beeinflusst.