Anfänge
Stefanie Manns
Schluss mit der Stubenhockerei
Er war ans Haus gekettet, im Irak. Jetzt ist er 
in Berlin, kurvt mit dem Rollstuhl herum und lernt und lacht
23.04.2019

Khalat, 27:

Am Anfang kam ich mir in Berlin vor, ­
als wäre ich zum Dreijährigen geworden. So anders war das Leben in dieser ge­waltigen Stadt, so vieles musste ich neu lernen. Wie man einen Fahrstuhl bedient zum Beispiel. Kannte ich nicht, ich kam ja aus dem Nordirak, dem kurdischen Teil des Iraks.

Dort war 2015 Krieg, kurdische Truppen kämpften gegen 
den Islamischen Staat. Zusammen mit meinem Onkel schlug ich mich nach Berlin durch, dort lebte schon mein jüngerer Bruder. Wir mussten immer neue Schlepper ­finden, um in irgendwelchen stickigen Autos ein Stück weiterzukommen. Einmal musste ich mich zwischen doppelte Böden quetschen. Und in Bulgarien kam ich ins Gefängnis. Die Polizisten unterstellten mir, ich sei ein Schlepper und würde meine Behinderung nur spielen. Aber meine Beine sind seit meiner Geburt gelähmt. Ich sitze im Rollstuhl.

Niemand hatte mir Lesen beigebracht

Ich war so isoliert gewesen im Irak! Die Schulen in ­meiner Heimatstadt wollten mich nicht aufnehmen, weil ich behindert bin. Ich konnte auch keine Berufsausbildung machen, nichts. Meine Mutter und mein Vater haben viel für mich gebetet, aber Lesen, Schreiben und Rechnen hat mir niemand in meiner Familie beigebracht. Ich war dazu verdammt, ein Stubenhocker zu sein. Ich schaute meiner Mutter beim Kochen zu, spielte Computer, guckte Melodramen im Fernsehen. Ich war depressiv. Lebensmüde.

In Berlin bin ich unter Menschen. Und ich wundere mich über vieles. Dass Leute ihren Hunden Befehle er­teilen, "sitz", "platz" und "bei Fuß" – und dass die Hunde das dann machen. Oder dass Leute im Gehen Kaffee trinken. 
Das ist eine Hektik hier, die ich aus Kurdistan nicht kenne. 
Ständig halsen sich die Leute hier Termine auf, Job-­Meetings, Fitnesskurse, Theaterbesuche. Ohne Pause dazwischen. Ich verstehe auch noch nicht, warum Paare sich trennen. Warum tun die sich das an, all das Leid? Es wäre doch viel einfacher, sie blieben einfach zusammen!

Ich gebe Obdachlosen regelmäßig Geld

Ungewohnt sind für mich die vielen bettelnden ­Obdachlosen. In meiner Heimat ist Betteln verboten. 
Außerdem würden Verwandte einen beherbergen, wenn man sich kein Dach mehr über dem Kopf leisten kann. Es macht mich traurig, dass es Menschen hier so schlecht geht. Den beiden Männern, die in Schlafsäcken vor meiner 
Haustür auf dem Gehweg liegen, gebe ich regelmäßig Geld.

Ich wohne jetzt in einer betreuten WG in Schöneberg. Die ersten drei Jahre war ich in einem Container am Stadtrand untergebracht. Da konnte ich nur nach Berlin rein­fahren, wenn mich mein Bruder oder mein Onkel ­begleiteten. Beide sind inzwischen freiwillig nach ­Kurdistan zurückgekehrt, um der Familie nahe zu sein. Jetzt be­gleiten mich Ehrenamtliche, zum Beispiel zwei Rentnerinnen. Kürzlich haben sie mich in die Philharmonie mitgenommen. Wie flink der Dirigent mit seinem Taktstock war! Und wie das Orchester ihm folgte!

Mein Traum: als Elektriker zu arbeiten

In einer Sprachschule lerne ich Deutsch. Und seit einem Jahr treffe ich mich regelmäßig mit einer Frau, in die ich verliebt bin. Sie ist 29, auch körperlich behindert, wir lernten uns in der Reha kennen. Ihre Eltern stammen aus Serbien, sie selbst ist in Berlin aufgewachsen. Ich wäre ­gerne fest mit ihr zusammen, aber sie sagt, ihr Vater wolle, dass seine Tochter einen serbischen Mann mit christlichem Glauben als Freund hat, keinen Muslim. Dabei bin ich kein Terrorist oder sonst wie ein schlechter Mensch, ich bete nur hin und wieder zu Allah.

Wenn ich meine Sprachscheine gemacht habe, will ich mir einen festen Job suchen. Zurzeit mache ich ein Praktikum bei einer Firma, die auch Behinderte einstellt. Dort repariere ich elektrische Geräte. Ich habe geschickte Hände und träume davon, später mal als Elektriker zu arbeiten.

Bis 2021 habe ich eine Aufenthaltsgenehmigung; als Geflüchteter aus einem Kriegsgebiet habe ich subsidiären Schutz erhalten. Vielleicht darf ich auch länger bleiben, die Bedingungen für eine Niederlassungserlaubnis sind bei Behinderten nicht so streng.

Neulich war ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Club, auf einer Inklusionsparty von der Lebenshilfe Berlin. Es war dunkel, die Musik laut, und ich drehte mich auf der Tanzfläche im Rollstuhl um die eigene Achse, wie ein Artist. Ich warf die Hände in die Luft und fühlte mich frei. So viele Menschen! Und ich mittendrin!

Protokoll: Philipp Wurm

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