Widersprüchliche Erzählungen ranken sich um Martin Luthers Choral "Ein feste Burg ist unser Gott". Einer Legende zufolge inspirierte er Pfalzgraf Friedrich III. zu einer Art pazifistischer Grundhaltung. Gott sei "ein feste Burg, ein gute Wehr und Waffen" - nicht aber die von Menschen gemachten Kanonen und Wallanlagen, so soll der Pfalzgraf und Kurfürst das Lied verstanden haben. Er habe daher während seiner Regentschaft keine einzige Festung bauen lassen.
Ganz anders eine Legende um den schwedischen lutherischen König Gustav Adolf. Von ihm heißt es, seine Soldaten seien im Dreißigjährigen Krieg mit dem Lied auf den Lippen gegen die Truppen der Altgläubigen ausgerückt. Und nach einem Sieg habe Gustav Adolf ausgerufen: "Das Feld muss er behalten!"
###autor### Wie kann ein Choral nur derart widersprüchlich interpretiert werden?
Die militaristische Deutung folgt den kriegerischen Metaphern des Luther-Chorals, ignoriert aber, was Luther eigentlich mit diesem Choral sagen wollte. Luther wähnte sich in der apokalyptischen Endzeit, in der sich Gott und Teufel einen kosmischen Kampf liefern. Gott und Christus streiten für das Gute, Christus bringt den "altbösen Feind" zu Fall - "ein Wörtlein kann ihn fällen". Der Gläubige bleibt passiver, staunender Beobachter.
Martin Luther schuf mit "Ein feste Burg" eine deutsche Nachdichtung zu Psalm 46: "Gott ist unsere Zuversicht und unsere Stärke". Text und Melodie stammen von ihm. Er schrieb sie irgendwann gegen Ende der 1520er Jahre, wann genau ist unklar. Der Choral gehörte ursprünglich zum Sonntag "Oculi", dem zweiten Sonntag der Passionszeit. Thema des Sonntags: sittlicher Ernst und die gewissenhafte Erfüllung der Christenpflicht. Mit seinem Lied rief Luther den Kirchgängern zu: Bleibt ehrbar, haltet die Füße still und vertraut allein auf Gott.
Satan als Bild für moralische Verfehlung
Spätestens die Aufklärung konnte mit der zugrunde liegenden apokalyptischen Weltsicht aber nichts mehr anfangen. Der aufgeklärte Theologe und Poet Johann Adolf Schlegel (Vater des berühmten Philosophen Friedrich Schlegel) dichtete den Choral 1774 daher um. Wie es scheint, wollte er einem militanten Missverständnis entgegenwirken: "Ein starker Schutz ist unser Gott! / Auf ihn steht unser Hoffen. / Er hilft uns treu aus aller Not, / so viel uns der betroffen. / Satan, unser Feind, / der mit Ernst es meint, / rüstet sich mit List, / trutzt, dass er mächtig ist. / Ihm gleich kein Feind auf Erden." - Wobei der Satan hier bildhaft die menschliche Neigung zur moralischer Verfehlung personifiziert.
Doch der Choral ließ sich nicht verbal entschärfen. Zu einprägsam sind seine Bilder, zu verlockend war es für Komponisten, ihn feierlich zu bearbeiten – eigentlich für fast alle großen Komponisten: Hans Leo Hassler mit einer bewegten vierstimmigen Fuge, ebenso später auch Samuel Scheidt. Michael Praetorius und Dietrich Buxtehude mit Choralphantasien für Orgel. Heinrich Schütz intonierte den Choral anlässlich des 100. Reformationsjubiläums 1617 am sächsischen Hof im Dreiertakt – natürlich mit festlichen Trompetenklängen. Überhaupt gehören Fanfarenklänge seit Johannes Eccard zum Standardrepertoire. Georg Philipp Telemann lässt die Melodiestimme fanfarenartig über der bewegten Fuge erklingen. Johann Sebastian Bach legte festliche Trompetenklänge über die Eingangsfuge. "Ein feste Burg ist unser Gott" galt schon früh als das Reformationslied schlechthin. Auch die Reformationssymphonie, die Felix Mendelssohn Bartholdy anlässlich des 400. Jahrestages von Augsburger Reichstag und Augsburger Konfession komponierte, mündet in diesen Choral.
Die martialische Metaphorik von "Ein feste Burg" mochte friedliebenden Theologen aufstoßen, wegzudenken aus dem Kanon evangelischen Liedguts war der Choral schon bald nicht mehr. Das Oldenburger Gesangbuch von 1792 dokumentiert die damalige Ratlosigkeit. Sie führt Luthers Lied fast schon entschuldigend mit der Bemerkung ein, es sei „als Denkmal seines hohen Mutes" unverändert in der Liedersammlung beibehalten worden.
"Kriegslied des Glaubens"
Anfang des 19. Jahrhunderts vermischten sich Reformationsgedenken und Nationalismus. Zwischen 1805 und 1808 veröffentlichten Clemens Brentano und Achim von Arnim eine mehrbändige Sammlung deutscher Volkslieder, "Des Knaben Wunderhorn". Darin bezeichnen sie Luthers Choral als „Kriegslied des Glaubens“.
Liederbücher von Studentenverbindungen und Turnvereinen kopierten den Titel. Und nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon avancierte der Lutherchoral zu einem Denkmal für Freiheit und Emanzipation - womit oft nicht die persönliche Freiheit gemeint war, sondern die der deutschen Nation.
Kriegslied des Glaubens, das hieß damals noch nicht gleich Kriegslied der Deutschen. 1836 ließ Giacomo Meyerbeer das Lied erklingen, um in seiner Oper „Les Huguenots“ den Kampfesmut reformierter Hugenotten darzustellen. Der Ex-Berliner Meyerbeer lebte und wirkte zu diesem Zeitpunkt schon zwölf Jahre in Paris.
Doch schon Achim von Arnim dichtete gegen Napoleon: "Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollte uns verschlingen, / das fürchten Preußen nimmermehr, / es soll uns doch gelingen! / Der Feind dieser Welt, / wie wild er sich stellt, / tut er uns doch nichts, / er scheut ja doch das Licht. / Ein Schuss, der kann ihn fällen." So mutierte das Glaubenslied zum blutigen Propagandasong. Der preußische Staat ersetzte das Gottesreich und Frankreich den Teufel. Chauvinistische Überheblichkeit trat an die Stelle lutherischen Gottvertrauens.
In Stein gemeißelter und in Bronze gegossener Militarismus ist das Wormser Reformationsdenkmal. Dem Entwurf des Künstlers Ernst Rietschel liegt das Lutherlied zugrunde. Die quadratische Grundfläche ist an drei Seiten von Mauern mit Zinnen umschlossen, in der Mitte steht ein turmartiges Podest mit der Lutherstatue, an allen vier Ecken weitere turmartige Sockel für Statuen von Vorreformatoren. Mit Glockengeläut, Kanonensalven und dem Gesang von "Ein feste Burg ist unser Gott" wurde das Denkmal 1868 enthüllt.
1871 verarbeitete Richard Wagner den Choral in seinem "Kaisermarsch", einer Komposition zur Feier des auf Blut und Eisen neu gegründeten Deutschen Reichs. Vor allem im Ersten Weltkrieg rankten sich dann die sonderbarsten Legenden um "Ein feste Burg". Ein verwundeter Soldat soll auf dem Operationstisch den Choral angestimmt haben. Und ein englischer Soldat soll berichtet haben: Unvorstellbar schrecklich sei ist, das Maschinengewehr auf ein Regiment zu richten, das mit dem Gesang des Lutherliedes heranstürmt.
Symbol des deutschen Militarismus
Auch die Gegenseite verstand "Ein feste Burg" als Symbol des deutschen Militarismus. In "En blanc et noire" (Deutsch: "In schwarz und weiß"), einem Werk für zwei Klaviere, lässt Claude Debussy den wuchtigen Choral erklingen. Er steht für die "Austro-Boches" (unschön für: die Österreich-Deutschen). Der Satz verliert sich in ein "Caprice à la française", an dessen Ende ein bescheidenes Glockenspiel die Marseillaise erahnen lässt. Zwei nationale Gesänge treten gegeneinander an.
1942 musste die Melodie im Film "Der große König" für Nazi-Propaganda herhalten: "Das Reich muss uns doch bleiben" - mit Hitler als "der rechte Mann" an der Spitze, "den Gott hat fest erkoren". Dreister ließ sich das Lied kaum missbrauchen.
Heute steht "Ein feste Burg" nicht mehr für Selbsterhöhung und Großsprech, sondern für Widerstand und Protest. Immerhin ist dies eine Tradition, deren Anfänge bis in Luthers Zeiten zurückreichen. Schon 1532 soll eine reformgesinnte Gemeinde in Schweinfurt den Luther-Choral gegen den Willen des Pfarrers in der Kapelle des Carmeliter-Klosters gesungen haben. Es war so heftiger Bürgerprotest, dass kurz darauf die Reformation eingeführt wurde.
"Marseillaise des 16. Jahrhunderts"
Der Dichter Heinrich Heine nannte "Ein feste Burg" 1834 in diesem Sinne die "Marseillaise des 16. Jahrhunderts". Bertold Brecht höhnte 1933 in seinen "Hitler-Chorälen": "Ein' große Hilf war uns sein Maul, / ein gute Wehr und Waffen. / Er nennt den Feind und war nicht faul, / ihn uns vom Hals zu schaffen." Das war zynisch gemeint und gegen Hitler gerichtet. Dessen Feinde, die Kommunisten, waren Brechts Freunde.
Luthers Choral als linker Protest gegen die Staatsmacht: Erich Fried dichtete ihn nach dem Freitod der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof im Stuttgarter Gefängnis um: "Ein feste Burg ist unser Stammheim". Und Demonstranten gegen das geplante Atommüll-Endlager im niedersächsischen Gorleben sangen 1980. "Ein feste Burg das Wendland ist, / voll Polizei in Waffen. / Allgegenwart und Spitzellist / sind ihr Gewalt und Waffen. / Der altböse Feind / mit ERNST er's jetzt meint, / groß macht und viel List / sein grausam Rüstung ist. / Im Land ist nicht seingleichen." Wobei das Wort "Ernst" auf den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht anspielte.
Erstaunlich, wie sich dieser Lutherchoral in der deutschen Kultur allen geschichtlichen Veränderungen zum Trotz immer wieder behauptet hat!