Herbst 1987: Christian Clauß hat ein ganzes Leben hinter sich: Er hat einen Krieg überlebt, die Gründung der DDR erlebt, eine Ausbildung gemacht, ein Fernstudium absolviert, promoviert, es bis zum wissenschaftlichen Mitarbeiter an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg geschafft. Clauß hat eine Familie gegründet und Kinder großgezogen. Seine Frau ist tot, er Rentner.
Susanne Schallock hat im Herbst 1987 ihr Leben noch vor sich. Sie ist 16, Schülerin, kennt von der Welt noch nicht viel. Dass sie später einmal Kinderkrankenschwesterwerden wird, ist jetzt noch eine Option von vielen. Mit Freundinnen reist sie in ein Wander-Hotel im Riesengebirge. Eines der DDR-Vergnügungszentren, in dem Jugendliche und Ältere aufeinander treffen, ganze Vereine fahren dorthin. Wanderungen werden angeboten und abends Tanzfeste.
Auf einem der Tanzfeste – Disco nennt es Susanne, haben sich die beiden kennen gelernt. Der Rentner und das Mädchen. 49 Lebensjahre trennen die beiden. Sie wurden trotzdem Freunde. Und sie sind es noch heute: Nach fast 30 Jahren.
Frühling 2016: Christian Clauß sitzt auf seinem Rollator und wartet vor dem Aufzug des Altenheims. Der 94-Jährige ist versunken in seiner stummen Welt. Das Hören geht nicht mehr und er sieht nicht gut. So bemerkt er Susanne nicht, die von hinten kommt; auch nicht als sie seinen Namen ruft. Als Susanne ihn anstupst, erhellt sich seine Miene: „Susanne, du bist da“, ruft er. Seine Stimme klingt frisch und ein bisschen aufgeregt. An seiner geistigen Wendigkeit hat er nichts eingebüßt. „Hallo“, sagt Susanne Schallock laut. „Wie schön, dich wiederzusehen.“ Und umarmt ihn. „Ich höre dich nicht“, sagt Christian Clauß. Er drängt auf sein Zimmer. Dort liegen stapelweise Papier und dicke schwarze Filzstifte bereit. Denn in Clauß’ verstummte Welt dringen nur noch daumengroße, schwarze Buchstaben, die der Gesprächspartner aufschreibt und ihm vor das Gesicht hält. So geht das auch mit den Fragen, die wir ihm stellen wollen.
ERINNERN SIE SICH AN DIE ERSTE BEGEGNUNG?
Clauß: Oktober ‘87, im Riesengebirge, 1400 Meter hoch. Sportfreunde, Bergwandern, Orientierungslauf, Sonderzug ab Dresden. Dort haben wir das ganze Hotel belegt. Die meisten aus Dresden und Umgebung. Wir mussten uns an- und abmelden. In der Regel war ich mit zwei ehemaligen Studenten unterwegs. Außer an zwei Tagen. An einem habe ich eine Cousine getroffen und am anderen habe ich Susannes Mädchengruppe kennengelernt. Susanne war die Jüngsten von allen.
Schallock: Ich glaube, ich habe ihn angesprochen.
Bei Nachfragen springt Susanne Schallock ein. Zu sehen, dass er so in seinem Körper gefangen ist, schmerzt sie. Dann wird das Gespräch ungeordnet, denn Clauß redet einfach weiter. Er hört und sieht nicht, wenn sie spricht.
Schallock: Er hat mir zuerst eine Karte geschrieben. Ich habe ihn am Anfang noch gesiezt und als Riesengebirgs-Bekanntschaft bezeichnet. Er hat alle meine Briefe aufgehoben – in meiner Sammlung gibt es Lücken.
Clauß: Die Namen der anderen Mädchen habe ich vergessen. Nur mit Susanne blieb der Kontakt bestehen. Auch mit den Kindern. Denen geht’s gut?
Ja, Schallock lächelt.
Sie wohnt mittlerweile in Bayern, Clauß in einem Altenheim in Halle, in der Nähe seiner Familie. Es ist ein weiter Weg, um ihn zu besuchen. Susanne Schallock ist eine feingliedrige, schmale Frau, Mitte 40, blond, ihr Gesicht mit vielen zarten Sommersprossen übersät. Sie hat Fotos mitgebracht. Erinnerungen wärmen die Gesichter der beiden. Clauß erkennt sein zwanzig Jahre jüngeres Ich, lacht und witzelt. „Ich habe mich gar nicht verändert“, sagt er. Susanne hat sich verändert, immer wieder, die vergangenen Jahre haben für sie einige Krisen bereitgehalten. Jedes Auf und Ab ist ihr auf den Fotos anzusehen. „Ist halt so“, sagt sie. Clauß betrachtet jedes Foto der früheren Susanne gleich liebevoll.
Ein alter Mann und so ein junges Ding. Befreundet. Wirkte das nicht irritierend? Kam das den Eltern nicht verdächtig vor? Kam keine Kritik aus dem Umfeld? Sie erinnern sich nicht mehr. Jetzt nach so langer Zeit, als Clauß längst zur Familie gehört und mit Susannes Eltern genauso Kontakt pflegt, und Susanne Clauß’ Kinder und Freunde kennt. Na ja, sagt Susanne, Clauß sei viel mit Studenten unterwegs gewesen, auch diese viel jünger als er. Er habe sich viel und gern unterhalten. „Es zeichnet ihn aus“, sagt sie. „Der Kontakt mit all den jungen Leuten hält ihn offen und beweglich.“ Sie bewundert das an ihm.
Clauß: Sie ging ja damals noch in die Schule in Dresden. Dann zog sie nach Augsburg, hat dort ihren Mann kennen gelernt und ist in die Nähe von Bamberg gezogen. Ich bin selbst zweimal umgezogen. Wir haben uns oft besucht, telefoniert und immer viel geschrieben, über unsere Erlebnisse, aber auch über Probleme. Diese Freundschaft ist die einzige so enge, die ich in dieser Form solange habe.
SUSANNE HATTE VIELE GESUNDHEITLICHE UND FAMILIÄRE KRISEN ZU MEISTERN. SIE WAREN IMMER DA. WAS HABEN SIE GEDACHT, WENN SIE WIEDER SCHWIERIGKEITEN HATTE?
Clauß: Ich habe oft darüber nachgedacht, was Freundschaft ist. Mir bedeutet es viel, dass Susanne mir gegenüber ihre Probleme so offen darlegen kann. Das ist nicht mit jedem so. Viele verraten nicht alles, was sie bewegt. Das schätze ich sehr.
Kurze Unterbrechung. Im Heim bewohnt Clauß ein Doppelzimmer. Ein Vorhang trennt seinen Bereich vom Nachbarn. Eine Pflegerin kommt mit einer alten Dame herein und zeigt ihr ihren neuen Schlafplatz. Clauß‘ letzter Zimmernachbar ist vor ein paar Tagen gestorben. Tagelang hat er auf der anderen Seite des Vorhangs gelitten. Clauß hat hier schon einige überlebt. Deprimierend, sagt er.
WOBEI HAT SUSANNE IHNEN GEHOLFEN?
Clauß: Eher umgekehrt: was kann sie mir erzählen. Sie hat sich mir anvertraut. Ich habe viel über meine Familie gesprochen und schreibe noch jetzt über Dinge, über die ich so nachdenke: gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragestellungen. Es tut gut, dass man mit ihr über alles reden kann, auch wenn ihre Erlebnisse so anders sind als meine.
Schallock: Er ist immer sehr analytisch an meine Probleme herangegangen, er hat sich Zeit genommen. Das hat sehr geholfen.
Clauß: Ich hatte auch Verständnis für ihren Mann. Er hatte psychische Probleme. Ich kenne das. Meine Frau war auch erkrankt.
WORAN DENKEN SIE GERNE ZURÜCK?
Clauß: Ich war auch bei der Hochzeit dabei, in der Sächsischen Schweiz, 1999. Und die vielen Ausflüge, die wir gemeinsam gemacht haben, zum Beispiel in der Fränkischen Schweiz. Und natürlich die Besuche, wenn sie mit den Kindern da war. Vor kurzem hat sie mich ganz überraschend besucht. Auf einmal war sie da. Am Anfang habe ich sie gar nicht erkannt.
DU BIST MEIN BESTER FREUND! schreibt Susanne in großen Buchstaben. Clauß greift ihre Hand und sagt nachdrücklich: „Du bist meine beste Freundin“.
Alter Mann, junges Ding
Tränen der Rührung und der Freude sind in meinen Augen... wie wunderbar und wunderschön von dieser tiefen Freundschaft zu lesen.
Zwei Seelenverwandte sind sich begegnet, haben sich erkannt und haben von da an immer in gegenseitiger Wertschätzung und Offenheit Verbindung gehalten.
Vom Alter und der Lebenserfahrung her sind sie sicher sehr unterschiedlich. Aber die beiden eint ein großherziges Wesen, Intelligenz und sehr viel Tiefgang.
Ich habe das große Glück, Susanne nicht nur zu kennen, sondern auch mit ihr befreundet zu sein. Dafür bin ich wirklich dankbar.
Christian habe ich nur einmal getroffen, aber aus Susannes Erzählungen ist er mir recht vertraut.
Zwei besondere Menschen verbindet eine besondere Feundschaft.
Frau Oberpriller hat einen sehr guten Artikel verfasst. Er rührt und spricht an, erschüttert teilweise, ohne in Rührseligkeiten abzuflachen. Klasse.