Berlin-Hellersdorf.
Fast wäre der Mann mit der Halbglatze und dem abgetragenen Sakko weitergelaufen, die Kaufland-Tasche fest in der Rechten. „Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“, ruft ihm die Frau am Klapptisch zu. – Kein Geld, sagt er. – „Der Kaffee kostet nichts“, schiebt Frau Jungnickel nach. Der Mann bleibt stehen. Misstrauisch schweift sein Blick zum Bollerwagen und dem Klapptisch neben der Wiese am U-Bahnhof. „Und Sie machen dit einfach so?“, fragt er. „Ich möchte Ihnen eine Freude machen“, sagt sie.
Barbara Jungnickel, die Frau am Klapptisch, ist Vorsitzende des Gemeindekirchenrates in Hellersdorf, eine schlanke Frau Anfang 50 mit Jeans und Regenjacke. Das „Café auf Rädern“ sei eine Idee der Kirchengemeinde, sagt sie. Damit die Nachbarn mal miteinander ins Gespräch kommen und der Stadtteil nicht mehr so anonym bleibt.
Gemeinde 2015
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und unter chrismongemeinde.evangelisch.de
Infos zur Gemeindestudie „Potenziale vor Ort“ ekd.de/si
Nun hat sich eine ältere Dame mit an den Tisch gesetzt. Sie erzählt, dass sie erst vor kurzem ins Viertel gezogen sei. „Ich könnte Ihnen ja mal Blumen vorbeibringen“, bietet ihr der Sakkoträger an. Und als er wieder gehen will, sagt er: „Ich hab’s ja nicht so mit dem Glauben. Aber heute – das war wie eine neue Familie.“
Die Szene ereignet sich in Berlin-Hellersdorf, einem Stadtteil mit gerade mal sieben Prozent Kirchenmitgliedern. Der Pfarrer der örtlichen Gemeinde, Hartmut Wittig, hat wegen seiner Flüchtlingsarbeit anonyme Drohbriefe erhalten. Neonazis kamen in seine Sprechstunde. Statt Polizeischutz anzufordern, entwickelten Pfarrer und Gemeinderat die Idee mit dem Bollerwagen-Café. Ihre Antwort auf die Drohungen: Jetzt erst recht auf die Hellersdorfer zugehen! Die Gemeinde setzt darauf, dass Menschen ihre Vorurteile hinterfragen, wenn sie einander kennenlernen. Und wenn sie das Gefühl bekommen, dass sich jemand im Stadtteil für ihre Sorgen interessiert.
Viele kommen zwar nicht zum improvisierten Straßencafé. Aber die Hellersdorfer Protestanten lassen sich davon nicht beirren. Ob ihnen die Neonazis keine Angst machen? „Christus spricht: Fürchte dich nicht“, antwortet Pfarrer Wittig.
Warum lassen sich Kirchengemeinden wie die in BerlinHellersdorf nicht entmutigen? „Natürlich brauchen Sie immer Einzelne, die vorangehen und für etwas brennen“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Petra-Angela Ahrens. „Vor allem muss die Gemeinde etwas bewegen wollen.“ Ahrens hat für das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 803 Gemeinden in ganz Deutschland nach ihrer Arbeit und ihrer Zufriedenheit befragt – zusammen mit Hilke Rebenstorf und Institutsdirektor Gerhard Wegner.
„Potenziale vor Ort. Erstes Kirchengemeindebarometer“, so heißt die Studie, aus der die Autoren zehn Gemeindetypen ableiten, was wiederum helfen soll, Strategien für die Gemeinde zu entwickeln. Unter den Typen gibt es zum Beispiel „die ländliche (westdeutsche) Kirchengemeinde im freien Fall“, den ostdeutschen Typ „Phönix aus der Asche“ – und „die zufriedene (westdeutsche) Wachstumsgemeinde im urbanen Raum“. Und wozu gehört die folgende Gemeinde?
Hessental, Schwäbisch-Hall.
Als Johannes Beyerhaus 1999 seine Pfarrstelle in Hessental am Rand von Schwäbisch Hall antrat, hatte der Stadtteil ein Underdog-Image. In den alten Kasernengebäuden waren Asylbewerber untergebracht, in der Gegend wurden Drogen gehandelt, die Lokalzeitung berichtete über Gewalt. Es kamen Leute zu den Veranstaltungen im Gemeindehaus, aber wirklich zusammengehalten habe die Gemeinde damals nicht, sagt Beyerhaus. „In der ersten Klausur habe ich den Kirchengemeinderat gefragt: Was gefällt Ihnen an der Gemeinde? Da hat keiner etwas gesagt.“ Das Schweigen schockierte den Pfarrer. Er wollte wissen, was in der Gemeinde schiefläuft und schlug dem Gemeinderat vor, das mit professioneller Hilfe herauszufinden: mit Hilfe des Instituts „Natürliche Gemeindeentwicklung“. Alles sollte auf den Prüfstand, auch die Qualität der Predigten. Der Gemeinderat stimmte zu.
###autor### Die erste Analyse fiel „unterdurchschnittlich“ aus, erinnert sich Beyerhaus. Doch statt das Ergebnis als Demütigung zu empfinden, fühlte sich der Gemeinderat herausgefordert. Man informierte sich auf Kongressen zum Gemeindeaufbau, verbesserte den Gottesdienst, richtete Glaubenskurse in der Gemeinde aus, engagierte eine Jugendreferentin, damit auch in den Schulferien etwas läuft – und ließ sich dann noch mal analysieren.
Die Mühe zahlt sich aus, beim zweiten Versuch drei Jahre später hat sich die Gemeinde in allen untersuchten Bereichen verbessert. „Ermutigend“, fand Beyerhaus. Inzwischen hat seine Gemeinde vier Auswertungen hinter sich. Sie ist noch immer nicht müde, Neues auszuprobieren: Viele Kinder kommen gern zur Kinderstunde, ihre Eltern sind aber berufstätig und schicken sie nicht immer los, wenn es soweit ist. Deshalb gehen nun jeden Donnerstag Mitarbeiter durch die Straßen und holen die Kinder ab.
Im vergangenen Herbst hat die Gemeinde selbst einen Zukunftskongress veranstaltet, um Ziele und Schwerpunkte zu definieren. 85 Gemeindemitglieder nahmen teil. Vertreter von Stadt, Schulen und Nachbargemeinden erzählten, wie sie die Gemeinde wahrnehmen. Seitdem organisieren kleine Gruppen weitere Neuerungen: Eine soll den Kontakt zwischen den Hauskreisen verbessern und sie in die Gottesdienstgestaltung einbeziehen. Eine andere bemüht sich um eine bessere Kommunikations- und Konfliktkultur in der Gemeinde.
Pfarrer Beyerhaus betont, wie wichtig auch das gemeinsame Gebet sei. Wirkt Frömmigkeit gegen Lethargie und Resignation? „Sie motiviert, aktiv zu werden“, sagt Petra-Angela Ahrens vom Sozialwissenschaftlichen Institut. Frömmigkeit solle man nicht gegen ein sozial-diakonisches Engagement ausspielen. Ebenso wenig, wie man aus Nächstenliebe um jeden Preis Streit vermeiden soll. „Das zeigt sich vor allem in Ostdeutschland. Dort erwachen einige Gemeinden zu neuem Leben, weil die Akteure Konflikte gerade nicht scheuen.“
Leipzig-Lindenau-Plagwitz.
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Staemmler-Michael tat sich mit dem Berufsbildungswerk in Leipzig zusammen, einer diakonischen Einrichtung, die Ähnliches vorhatte, der aber die Räume dafür fehlten. Nun musste er den Kirchenvorstand und seinen Superintendenten überzeugen, Kirche und Gemeindehaus an das Berufsbildungswerk zu verkaufen. Das größte Hindernis: die Mieter im Pfarrhaus. Der Pfarrer sprach das unangenehme Thema an. Die Idee wurde lange diskutiert. „Letztlich haben alle eingesehen, dass wir nur auf diese Weise eine Chance haben, die Kirche zu erhalten“, sagt Martin Staemmler-Michael.
Ende 2016 sollen das Philippushotel und -restaurant öffnen. Ein Imker nutzt bereits den idyllischen Garten. Und die Kirche lädt schon jetzt mehrmals in der Woche zu Andachten und Konzerten ein.