Abraham machte sich auf den Weg. Maria und Josef notgedrungen auch. Und die Crumstädter Kirchengemeinde.
Das kam so: Eine Woche vor Weihnachten 2010 stellte ein Statiker fest, dass die Crumstädter Kirche - 1593 fertiggestellt und eine der ältesten protestantischen Kirchenbauten überhaupt - baufällig ist und Sofortsicherungen erfordert. Der Dachstuhl ist durch Insektenfraß, Nässe und Pilzbefall dringend renovierungsbedürftig. Was nicht nur eine finanzielle Herausforderung für die Protestanten in dem südhessischen 3.679-Seelen-Örtchen bedeutete, sondern sie mit einem Schlag quasi heimatlos machte.
Ein wanderndes Gottesvolk
Bald nach dem ersten Schreck war das "wandernde Gottesvolk" geboren, trotz jeder Menge Schnee in jenem Winter. Auch wenn der reguläre Sonntagsgottesdienst seitdem ins Gemeindehaus ausweichen konnte - Pfarrerin Julia Bokowski und die Aktiven der Gemeinde beschlossen, zu besonderen Anlässen besondere Orte aufzusuchen.
Bokowski, seit Ende 2009 im Amt der zuvor geraume Zeit verwaisten Gemeinde, vertritt selbstbewusst den Anspruch: "Wir wollen eine einladende und aufsuchende Gemeinde sein." Das hat sie mit ihrer Gemeinde denkbar konsequent umgesetzt, aus der räumlichen Not eine Tugend gemacht und damit buchstäblich viel in Bewegung gebracht.
Gemeinsam feierten die Crumstädter einen Begegnungsgottesdienst im Neubaugebiet, einen Oasengottesdienst in der Grillhütte, im Schwimmbad einen Taufgottesdienst, einen Erntedankgottesdienst auf dem Hof eines ortsansässigen Landwirts und einen Gottesdienst zum Thema Kreuz an einer viel befahrenen Straßenkreuzung. Bekannt gemacht wurden diese außergewöhnlichen Angebote per Gemeindebrief, Flugblatt und Aushang in allen ortsansässigen Läden.
Viele begeistert - einige irritiert
Die "Wanderung" alle eins, zwei Monate begeisterte viele bis dahin der Kirche eher passiv bis ablehnend gegenüberstehende Crumstädter, berichtet Julia Bokowski. Manch einer, der sich in christlicher Hinsicht bislang deutlich bedeckt gehalten hatte, habe sich aufrichtig über die Ehre und Wertschätzung gefreut, dass die Pfarrerin zum ihm kam, um den Gottesdienst zu feiern. Einige wenige treue Gottesdienstbesucher freilich irritierte die Aktion. Sie vermissten den gewohnten Rahmen - und blieben weg.
Doch die weit überwiegende Mehrheit der Protestanten war begeistert, auch wenn die Organisation eines Gottesdienstes im Freien oder in einem Vereinsheim deutlich mehr Arbeit macht als in der heimischen Kirche. Und wie verdeutlicht man den Beginn der Feier, wenn keine Glocke zur Verfügung steht?
An anderer Stelle wurden beglückende Erfahrungen ganz neuer Art möglich. So sahen etwa beim Gottesdienst in der Turnhalle etliche der anwesenden Sportler erstmals über den Tellerrand ihrer jahrzehntelangen Konkurrenz zueinander. Hand- und Fußballer staunten plötzlich über die Zugänglichkeit des jeweils anderen Clubs. Das Vereinsheim der "anderen" hatten die meisten nie zuvor betreten. Die 39-jährige Pfarrerin muss schmunzeln, wenn sie davon erzählt. Ihre Beobachtung: "Kirche kann versöhnen - oder zumindest Begegnung ermöglichen."
Zur Konfirmation 2013 hoffentlich wieder "zu Hause"
Wenn alles klappt, ist die ungefähr ein Jahr dauernde Instandsetzung im Frühjahr 2013 abgeschlossen, rechtzeitig zur Konfirmation. Bis dahin bleibt noch viel Raum für neue Ideen, und an Ideen mangelt es nicht. Ist der derzeit marode Zustand des alten Gemäuers am Ende ein Glücksfall? "Na ja", stöhnt die 39-jährige Pfarrerin leise. So weit geht sie dann doch nicht. "Unsere Kirche fehlt uns schon."
Kirche sei "mehr als nur ein Versammlungsraum", hat sie gelernt: "Dort erlebt man sichtbar und leibhaftig, dass Gott in der Welt ist." Der vertraute Rahmen, das still-feierliche Ambiente, der sinnliche Bezug - all das bietet ein traditionelles Gotteshaus und wird eben auch schmerzlich vermisst.
Was keineswegs gegen das Konzept des "wandernden Gottesvolks" spricht, auch über die aktuelle Raumnot hinaus. Julia Bokowski ist darum sicher: "Wir werden das auf jeden Fall beibehalten." An Pfingsten geht es in den Kindergarten, und demnächst möglicherweise in den Wald?
Von der Jury Chrismon-Gemeinde 2012 hat Crumstadt einen Sonderpreis von 500,- in der Kategorie "Gottesdienst" erhalten - darüber hat sich Julia Bokowski natürlich gefreut. Allerdings gab es auch einige kritische Stimmen zur Preisvergabe, denn Crumstadt war Zweiter beim Publikumsvoting geworden: 12.297 Stimmen hatte es gegeben. Hätte die Jury da nicht automatisch einen der ersten drei Preise vergeben müssen? Julia Bokowski sieht das gelassen: Allein die Teilnahme der Gemeinde habe für jede Menge Aufmerksamkeit gesorgt und für ein Spendenaufkommen, welches die Aussicht gestellten Preisgelder weit überstieg …