Sie floh vor ihrem Vater, weil sie nicht verheiratet werden wollte
Die vier älteren Schwestern sind bereits mit Kosovaren verheiratet worden, sie wäre die Nächste. Untertauchen? Damit würde Elona Berisha* den Ruf der Familie ruinieren. Schließlich tut sie es doch.
Tim Wegner
09.05.2011

Ich musste zwar kein Kopftuch tragen, aber sonst galten strikte Regeln in meiner sehr traditionellen muslimischen Familie: nicht schminken, keine Tampons, sofort nach der Schule nach Hause, immer putzen, Gäste bedienen. Mein Vater hat mich geschlagen. Ich musste als Strafe Stunden auf den Knien verbringen. Meine Mutter sah mich immer als Flittchen, als Schlampe, völlig grundlos.

Meine vier älteren Schwestern sind mit Kosovaren verheiratet worden. Ich war die Nächste. Als mein Vater dann rausgekriegt hat, dass ich einen Freund hatte, ist er mit dem Messer auf mich los. Von da an hat er mich immer zum Gymnasium gebracht und gleich nach dem Unterricht abgeholt. Er fragte auch dauernd: „Wann bist du endlich fertig mit der Schule? Das dauert zu lange!“ Dabei wollte ich doch studieren, wollte etwas erreichen. Ich konnte sein Verhalten nicht mehr einschätzen. Das Schlimmste war, dass ich kein Ende sah.

Ich überlegte lange, ob ich die Familie verlassen soll. Ich machte mir Listen mit Pro und Kontra. Man ruiniert den Ruf der Familie, und man kann nie wieder zurück. Das wichtigste Pro war, dass ich dann selbst über meine Ziele entscheiden könnte: Abitur, Studium, Ausland... Schließlich vertraute ich mich der Mutter meines Freundes an. Sie bot sofort an, dass ich zu ihr ziehe.

Sie geht mit der Schultasche aus dem Haus und kehrt nicht wieder zurück

Eines Morgens, ich war 18, bin ich mit meiner Schultasche aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekommen. In meinem Abschiedsbrief stand, dass meine Eltern sich keine ­Sorgen zu machen brauchen, dass ich zurechtkomme; dass ich nichts Schlimmes getan habe, wie sie es mir vorwarfen; und dass sie es bei meinen jüngeren Geschwistern vielleicht anders machen als bei mir.
Ich war erst mal krankgeschrieben. Was gut war, denn mein Vater randalierte in der Schule. Und ich musste viel organisieren: die Polizei anrufen, eine Auskunftssperre beim Einwohneramt veranlassen, die Schule wechseln, Kindergeld für mich bean­tragen – dabei half mir ein Anwalt. Überhaupt habe ich so viele ehrlich hilfsbereite Menschen kennengelernt! Aus der kosovarischen Community kannte ich nur Hintenrum und Neid.

Anfangs hatte ich Angst rauszugehen, denn ich wusste, dass meine Familie alles tun würde, um mich zu finden. Klar, zuerst fühlte ich mich auch verloren und schuldig: Habe ich nicht meine jüngeren Geschwister im Stich gelassen? Wollten sie Kontakt zu mir? Schließlich fand ich meine jüngere Schwester bei Facebook. Sie schrieb zurück, ich hätte den Ruf der Familie ruiniert, und wie ich es wagen könnte, ihr zu mailen. Sie ist kürzlich verlobt worden. Meine Eltern haben also nichts verstanden. Ich werde keinen Kontakt mehr suchen.

Im ersten Jahr hat sie viel geweint

Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe. Das erste Jahr habe ich zwar viel geweint, aber heute bin ich oft richtig glücklich: als ich den Führerschein machte, das war ein Traum von mir; als ich mein Abi bestand; als ich in den USA und in England war als Au-pair. Ich habe schon viel gesehen: Ich war einige Monate in Neuseeland, ich war in Rom, in Stockholm – ich habe jetzt so viele Möglichkeiten! Ich möchte weitere Reisen unternehmen und nach meinem Studium als Lehrerin arbeiten. Mein großes Ziel ist es, in zehn Jahren in Neuseeland zu leben und zu arbeiten.

Aber alleine hätte ich das nie geschafft. Ich glaube, ohne meine „Wunschmutter“ und meine ganze neue Familie wäre ich zurückgegangen. So hatte ich Menschen, die sagen: Du schaffst das, glaub an dich! Wenn ich mich heute schlecht fühle, zählt mir mein Freund auf, was ich alles gemacht habe seit meinem Auszug und wer mich alles mag. Oder er nimmt mich einfach in den Arm, weil er weiß: Morgen sieht der Tag wieder anders aus.

Ja, ich habe mich für ein schönes Leben entschieden. Und ich habe erfahren, dass ich ein guter Mensch bin. Da war ich mir nämlich nicht so sicher. Ich habe ziemlich viel Glück gehabt. Deshalb sage ich mir: Raus mit den schlechten Gefühlen aus meinem Kopf!

Protokoll: Christine Holch

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