Großer Lauschangriff
Ganz schön unheimlich, die Vorstellung, dass da jemand meine geheimsten Gedanken kennt. Da fragt sich doch, was er mit all seinem Wissen anfängt
07.10.2010

Der deutsche Staat soll nicht alles wissen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung, mit der seit 2008 Informationen über Bürger "auf Verdacht" gesammelt wurden, im März 2010 gekippt.

Solch staatliche Allwissenheit hatte zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Die einen meinten: Wer nichts Unrechtes tut, braucht auch vor der Überwachung keine Angst zu haben. Und wäre es nicht gut, wenn dadurch Verbrechen aufgeklärt und Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden könnten? Die anderen fühlten sich daran erinnert, dass in der DDR das "Ministerium für Staatssicherheit" die eigenen Bürger bespitzelte. Wie im Film "Das Leben der Anderen" gezeigt, musste man ständig Angst haben, belauscht zu werden.

Die gleichen gemischten Gefühle löst die Vorstellung eines allwissenden Gottes aus. Gut, wenn er alles sieht, hört, weiß und Sünder zur Verantwortung zieht. Aber warum muss er alles über mich wissen?

Die Bibel lässt keinen Zweifel: Gott weiß alles. "Der Herr ist ein wissender Gott", heißt es in 1. Samuel 2,3. Weniger nüchtern, viel poetischer, beschreibt der 139. Psalm Gottes Allwissenheit: "Siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest."

Selbst im Totenreich gibt es kein Entrinnen

Der Psalm treibt das Gedankenspiel sogar noch weiter. "Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da." Gott weiß und sieht wirklich alles.

Wenn wir heute von Allwissenheit sprechen, erscheinen in unseren Köpfen viele negative Bilder: Der "gläserne Mensch", der "große Lauschangriff", die vollständige Überwachung durch einen "Big Brother". Allwissenheit klingt nach Kontrolle, nach ständig drohenden Strafen. Liest man die biblischen Texte in diesem Sinne, kann sich Gottes Allwissenheit ganz schön bedrohlich anfühlen. Er kennt jedes meiner Worte, noch bevor ich sie sage, auch die schlechten. Vor ihm kann niemand fliehen. Selbst wer sich im Totenreich zu verstecken versucht, wird von ihm aufgespürt. Es gibt kein Entrinnen.

Viele Menschen erinnern sich, in ihrer Kindheit genau so ein Gottesbild gehabt zu haben. Wer heimlich einen Keks aus der Dose stahl, musste riskieren, dass Gott ihm über die Schulter schaute und ihn anschließend bestrafte. Dieses Denken kommt in einem Kinderlied zum Ausdruck: "Pass auf, kleine Hand, was du tust... Denn der Vater im Himmel schaut immer auf dich." Dass diesem bedrohlichen Bild schnell noch der Satz hinterhergeschoben wird: ". . . denn der Vater im Himmel hat dich lieb", macht nur wenig wett.

Doch die Autoren der Bibel haben etwas anderes im Sinn, wenn sie über die Allwissenheit Gottes sprechen. Ihnen geht es um seine Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Wenn Gott jederzeit weiß, wo man ist, kann er einem auch überall beistehen. Im 139. Psalm heißt es deshalb auch: "Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir." Wo eben noch der Gedanke an vollständige Kontrolle aufkam, geht es jetzt um Vertrauen und Geborgenheit. Statt von einem göttlichen "Lauschangriff" ist die Rede vom Schutz gegen Angriffe. Und statt den Menschen zu überwachen, schirmt Gott ihn mit seinen Händen vor bösen Einflüssen ab.

Entscheidend ist, was einer mit seinem Wissen anfängt

Auch im Neuen Testament spielt die Allwissenheit Gottes eine positive Rolle. Um die Fürsorglichkeit Gottes zu beschreiben, erzählt Jesus seinen Jüngern: "Auch die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt" (Lukas 12,7). Er selbst weiß schon alles über einen Menschen, bevor er ihm begegnet. Entscheidend ist aber, was Jesus mit diesem Wissen anfängt.

Einmal begegnet er an einem Brunnen einer Frau aus der beargwöhnten Religionsgemeinschaft der Samaritaner. Dass sie schon fünf Männer gehabt hat und jetzt unverheiratet mit einem zusammenlebt - eine große Schande zur damaligen Zeit -, weiß Jesus bereits. Aber anstatt sie für ihre Vergangenheit zu verurteilen, redet er mit ihr über die Zukunft. Am Ende geht die Frau befreit nach Hause (Johannes 4).

Ja, Gott weiß wirklich alles. Aber er verwendet es nicht gegen uns.

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