chrismon: Die meisten Menschen sagen: Bloß nie ins Heim! Verstehen Sie das?
Isabella Müller: Ja, natürlich. Ich kenne keinen Menschen, der ins Pflegeheim möchte. Ich auch nicht. Jeder möchte möglichst für immer im gewohnten Umfeld bleiben können.
chrismon: Warum sind dann so viele im Pflegeheim?
Müller: Das Heim hat auch Vorteile - wenn ein Mensch vereinsamt, wenn der pflegende Angehörige selbst schon so alt oder so krank ist, dass er plötzlich ausfällt. Und das Heim kann eine Entlastung sein: wenn es den Angehörigen jene Aufgaben abnimmt, die für sie sehr schwierig sind, etwa die Inkontinenzversorgung, ihnen aber alles andere lässt - also die Zuwendung, das Schöne-Erlebnisse-Schaffen. Dann hat man viel gewonnen.
Klaus Dörner: Das Merkwürdige ist: Die Heime sind im Vergleich zu den 60er Jahren viel besser geworden, aber sie werden immer weniger akzeptiert. Weil die Menschen immer empfindlicher auf die Einschränkung ihrer Individualität reagieren. Das Grundgesetz verbietet es ja auch, Menschen einem "besonderen Gewaltverhältnis" zu unterwerfen. Außer es gibt keine Alternative dazu, wie im Gefängnis oder beim Militär. Aber zum Altenheim gibt es heute Alternativen. Deshalb wird es immer schwieriger zu begründen, warum jemand ins Heim muss.
chrismon: Altenpflege-Immobilien werden als prima Geldanlage empfohlen - weil man 2050 doppelt so viele Pflegeplätze brauche wie heute. Soll ich da mein Erspartes anlegen?
Keiner will ins Heim!
Dörner: Tun Sie das ruhig, Sie werden irgendwann in den Miesen landen. Weil keiner in die Heime will. Wir Alten sind keine Minderheit mehr, solche großen Gruppen kann man nicht mehr institutionalisieren. Wir suchen dritte Wege - zwischen den eigenen Wänden und dem Heim.
chrismon: Frau Müller, dann geht Ihr Unternehmen ja einer schwarzen Zukunft entgegen!
Müller: Nein, überhaupt nicht. Das Pflegeheim wird - leider - immer seine Berechtigung haben. Denn je älter die Menschen werden, desto vielfältiger werden auch die Krankheitsbilder. Und da ist die Pflege manchmal nur stationär möglich.
Dörner: Es ist aber erwiesen, dass die intensive Pflege auch in anderen Settings geht, insbesondere in den ambulanten Wohnpflegegruppen um die Ecke in meinem Viertel.
Müller: Natürlich sehen wir den Wunsch der Menschen, möglichst bis zuletzt im gewohnten Umfeld leben zu können. Und wehe den Profis, die diesen Wunsch nicht beachten, die diese Entwicklung verschlafen! Die haben irgendwann leere Häuser.
chrismon: Wie reagiert Ihr Unternehmen denn auf den Wunsch, zu Hause zu bleiben?
Müller: In einigen unserer Residenzen haben wir "Vitalcenter", wo Sie nach einem Schlaganfall oder einem Klinikaufenthalt in zwei, drei Monaten wieder so fit gemacht werden, dass Sie nach Hause können. Weil Sie sich wieder selbst anziehen können, selbst waschen. Das ist etwas, was nur ein Pflegeheim mit seinen Therapeuten und Krankengymnastinnen kann.
chrismon: Aber irgendwann brauche ich vielleicht doch täglich Unterstützung, und dann?
Der Trend geht zum Servicewohnen
Müller: Wir können Wohnformen schaffen, die auch mehr Selbstbestimmung ermöglichen. Ich will zum Beispiel Gastgeberin sein, Besuch bekommen, aber das ist nur eingeschränkt möglich, wenn ich nur ein Zimmer habe. Deshalb möchten wir Wohnungen schaffen, in denen der Mensch betreut ist, aber nur in dem Maß, wie er es braucht und möchte. Ich brauche nicht jeden Morgen den Wohlfühlanruf: "Guten Morgen, Frau Müller, wie geht es Ihnen heute?" Der Trend geht zum Servicewohnen: Da nehme ich mir das, was ich brauche, ich muss kein ganzes Paket buchen und zahlen.
Dörner: Die Schritte der Heimbetreiber sind wirklich sehr interessant! Erst gab es die Welle Betreutes Wohnen, ein Schritt in die richtige Richtung, vom Heim zum Ambulanten. Jetzt das Servicewohnen ist die nächste, liberalere Stufe. Dann haben die Heime das Thema Rehabilitation entdeckt. Damit erfüllen sie natürlich nur den gesetzlichen Auftrag, den es immer schon gab neben dem Pflegeauftrag. Das gesamte Profisystem, wir alle, haben diesen Eingliederungsauftrag jahrzehntelang am liebsten ignoriert, weil der lästig ist. Wir saßen doch richtig auf unseren Klienten!
chrismon: Die Heime haben kein Interesse, die Bewohner so zu aktivieren, dass sie in eine niedrigere Pflegestufe kommen?
Müller: Das ist ja das Verrückte. Wenn es Ihnen gelingt, einen Bewohner von der Pflegestufe III in die Pflegestufe II zu bekommen, erhält er weniger Geld von der Pflegeversicherung. Also hat niemand einen Anreiz - es sei denn, er hat ihn in seinem Menschenbild und im Verständnis seiner Arbeit.
chrismon: Sie hätten gerne einen Bonus?
Müller: Das fände ich gerecht! Und ich wage mal zu prognostizieren, dass es vielen alten Menschen dann erheblich besser ginge.
Dörner: Und wenn sich das herumspricht, dass man aus einem bestimmten Heim auch wieder rauskommt, dann ist das auch ein Wettbewerbsvorteil.
chrismon: Selbst wenn die Heime attraktiver würden - für die vielen Menschen, die in Zukunft ein hohes Alter erreichen, lässt sich das nicht finanzieren. Herr Dörner, Sie wollen deshalb die Betreuung mehr auf die Schultern der Bürger und Bürgerinnen verlagern ...
Normale Durchschnittsbürger verbringen ihre Freizeit mit Dementen - unglaublich!
Dörner: Nicht ich, die Bürger selbst wollen es! Das ist unglaublich, aber nachweisbar. Die Bürger, und zwar nicht nur die mit den Engelsflügeln, sondern der normal eigensüchtige Durchschnittsbürger, machen sich auf die Socken und öffnen sich anderen, fremden Menschen. Und sie probieren eine Hülle und Fülle von neuen Varianten zwischen Heim und Zuhausebleiben aus, meist mit einem Mix aus Bürgern und Profis.
chrismon: Aber wer hat denn Lust darauf, sich in seiner Freizeit mit Dementen zu beschäftigen?
Dörner: Viele! Die Freiwilligenagenturen kennen viele Leute, die sagen: Ich möchte am liebsten mit Dementen arbeiten.
chrismon: Laien wissen doch gar nicht, wie man mit Dementen umgeht ...
Dörner: Die lernen das schon. Als meine Schwiegermutter zu uns kam, hatten wir auch keine Ahnung, wie man mit Pflegebedürftigen umgeht. Aber irgendwann haben wir es gekonnt.
chrismon: Und Sie meinen, ich würde mich dann engagieren?
Dörner: Wenn Sie in der Wohnung gegenüber wohnen, dann ließe sich das wahrscheinlich schwer vermeiden. Im lokalen Umfeld sind die Menschen am leichtesten zu mobilisieren. In Bielefeld zum Beispiel gibt es bereits 70 ambulante Wohnpflegegruppen. Pro Wohngruppe arbeiten rund 20 Bürger ehrenamtlich mit - sie kochen oder sind nachts da oder beschäftigen sich mit den Bewohnern. Diese Leute sagen: Wenn ich nicht für das Elend der ganzen Welt zuständig sein muss, sondern nur für die Dementen, die da wohnen, wo ich auch wohne, dann kann ich mir das vorstellen. Denn die sind abzählbar. Und die gehören zu uns, das sind unsere Dementen.
chrismon: Würde mir diese ehrenamtliche Aufgabe gefallen?
Dörner: Natürlich nicht. Aber Sie würden es trotzdem tun.
Müller: Würde das dem Pflegebedürftigen gefallen, wenn er mit Widerwillen versorgt wird?
Jeder Mensch braucht eine Tagesdosis an Bedeutung
Dörner: Der Widerwille wäre gar nicht so groß, denn der Witz ist doch: Jeder Mensch braucht auch eine Tagesdosis an Bedeutung für andere. Zum Beispiel Rentner wie ich. Kein Mensch kann 100 Prozent Freizeit leben. Davon träumt man, aber in der Realität leidet man darunter. Damit man weiß, wofür man eigentlich noch lebt, braucht man ein kleines Stück, ich sag mal: Fremdbestimmung, um sich in den Dienst von anderen zu stellen. Die Menschen brauchen etwas, was sie freiwillig nicht wollen können. Eine Belastung. Sie können nicht nur mit Entlastung leben.
Müller: Aber was ist mit den Menschen, die eine Überdosis an Bedeutung für andere haben? Berufstätige, Mütter, eben all die Menschen, denen die Zeit und die Nerven fehlen, noch mehr zu leisten, als sie schon tun. Ich habe irgendwo auch den nicht ungesunden Egoismus, dass ich meinem Mann eine Partnerin sein möchte, meinen Kindern eine vollwertige Mutter, und auch ich bin Freundin von jemandem - das ist eine Überdosis an Bedeutung für andere.
chrismon: Vielleicht kommt das nur für fitte Rentner und Rentnerinnen infrage?
Müller: Aber irgendwann wird auch der Kümmerer krank, und dann bricht dieses Netz weg. Man braucht jemanden, der dieses Netz organisiert. Und das können die Profis! Auf diesem Feld werden wir in Zukunft vor allem gefordert sein. Wir werden uns, wie Herr Dörner das nennt, "umprofessionalisieren" müssen ...
Ein Teil der Last muss wieder auf die Schultern der Bürger, ob die dazu Lust haben oder nicht
Dörner: ...und zwar in dem Sinn, dass Sie andere Leute anleiten. Denn wenn der Hilfebedarf in der Gesellschaft so unglaublich wächst, kann man nicht einfach unser Profihilfesystem linear erweitern. Jetzt muss ein Teil des Hilfebedarfs wieder zurück auf die Schultern der Bürger. Und zwar ziemlich egal, ob die das wollen oder nicht. Es geht eben einfach nicht anders. Und die Profis müssen immer fitter werden darin, dass sie die übergeordnete Verantwortung haben und gucken, mit welchen Menschen sie welche Aufgaben wie lösen können.
chrismon: Herr Dörner, Sie träumen von der ambulanten Wohnpflegegruppe - aber das ist doch immer noch eine Institution! Da ist es doch egal, ob ich im Heim bin oder. ..
Dörner: Nein, das ist eben nicht egal! Angenommen, Sie haben eine pflegebedürftige Mutter und selbst keine Zeit, dann schließen Sie nur einen Mietvertrag ab für diese neue Wohnung, getrennt davon noch einen Pflegevertrag mit einem ambulanten Pflegedienst, den Sie selber wählen - Sie als Tochter behalten also einen Teil der Verantwortung in der Hand, Sie geben sie nicht völlig ab, wie es im Heim der Fall wäre. Aber von der Menge der belastenden Arbeiten werden Sie in dem Maße, wie es für Sie bekömmlich ist, entbunden. Und das Unglaubliche ist: In einer solchen Wohnpflegegruppe bekommen die Bewohner mehr als doppelt so viel Zuwendungszeit wie in einem noch so guten Heim. Das hat eine Studie gemessen.
chrismon: Frau Müller, mal abgesehen davon, dass Herrn Dörners Vision wunderbar klingt, meinen Sie, es wird so kommen?
Man muss Extremes fordern, um ein bisschen Veränderung zu erreichen
Müller: Vielleicht nicht in dem Ausmaß, wie das Herr Dörner voraussieht. Aber wenn es so käme, wäre es schön! Man muss extreme Dinge fordern, um überhaupt ein bisschen Veränderung zu erreichen. Das ging uns auch so, als wir den Ansatz wagten, den Bewohner so fit zu machen, dass er möglichst schnell wieder nach Hause kann. Da musste man bei vielen Mitarbeitern ein Denken aufbrechen, dieses "Das geht nicht! " - denn für die Wirtschaftlichkeit eines Hauses ist es ja auch wichtig, dass es belegt ist. Oder als wir Bewohner an Alltagsarbeiten beteiligten - dass sie zum Beispiel für Reibekuchen, ein Essen ihrer Kindheit, Kartoffeln schälen und reiben. Da mussten wir uns gegenüber den Behörden erklären, die sagten: "Jetzt lassen die ihre Bewohner für sich arbeiten, wollen die Küchenpersonal einsparen?" Wenn nicht immer wieder extreme Dinge gefordert würden, wären wir heute immer noch dort, wo wir früher waren: dass Behinderte, Alte und Kranke weggeschlossen wurden in Verwahranstalten.
chrismon: Na, Sie sind sich ja ziemlich einig ...
Dörner: Ja, Sie kriegen uns nicht so schnell in Streit miteinander! Was übrigens ein Zeichen für die Situation ist. Die ideologischen Grabenkriege sind eigentlich vorbei, es wächst von beiden Seiten etwas - von der stationären und der ambulanten. Und irgendwann trifft es sich in der Mitte.
chrismon: Wenn Sie sich vorstellen, Sie wären 93 und hätten eine Demenz entwickelt - wie würden Sie wohl leben?
Stellen Sie sich vor, Sie sind jetzt 93 und dement...
Dörner: Ich hoffe, dass ich mich in die Demenz fallen lassen kann, dass ich es geschehen lassen kann. Dass ich mich - natürlich unter Sträuben - verabschieden kann von allen Sitten und Gebräuchen, die bisher so üblich waren, und dass ich es dann vielleicht sogar ein bisschen begrüßen kann, mich den anderen zu entziehen.
chrismon: Wo sich das abspielt, in welcher Räumlichkeit, wäre Ihnen egal?
Dörner: Natürlich würde ich das am liebsten in meinen eigenen vier Wänden leben, wo ich mit den Tapeten quasi verwachsen bin. Denn das macht man nicht mit einem alten Menschen, dass man die innere Haut, die mit der äußeren Wohnhaut verwachsen ist, auseinanderreißt. Und ich würde bis dahin alles fördern, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das gelingt. Und wenn mir das nicht beschieden ist und ich lande im schlechtesten Heim Hamburgs, würde ich es akzeptieren - weil ich mit meinen Bemühungen, das System zu verbessern, nicht gut genug war. Ich würde es niemand anderem vorwerfen als mir selbst.
chrismon: Frau Müller, wenn Sie sich vorstellen, Sie wären 93 Jahre alt?
Müller: Mit 93 wird die Zahl derer, die sich freiwillig und gerne und aus freundschaftlichen oder familiären Gründen um mich kümmern, sicher sehr abgenommen haben. Insofern hoffe ich, dass sich die Profis weiter bemühen, dem Anspruch, den wir an sie stellen, gerecht zu werden, und würde da auf professionelle Hilfe vertrauen. Aber ich hoffe, dass auch die Gesellschaft es einfach schön findet, dass auch sehr alte Menschen, auch demente Menschen zu unserer Gesellschaft gehören, und dass sie sich darum kümmern.
chrismon: Sie hoffen, dass Pflegekräfte zu Ihnen nach Hause kommen?
Müller: Ja. Wobei ich mir durchaus auch vorstellen kann, dass dieses Zuhause ein Gebäude ist, in dem Menschen leben, denen es ähnlich geht. Denn ich glaube, das Allerschlimmste, und das trifft sicher Hochbetagte am allermeisten, ist die Einsamkeit. Und wenn ich einsam bin, nützt mir auch die Selbstbestimmung nichts mehr.
chrismon: Sie würden also auf die altvertraute Tapete verzichten, Ihnen wäre vor allem wichtig, nicht allein zu sein.
Müller: Ich hoffe, es gelingt mir, mir die neue Tapete rechtzeitig so vertraut zu machen, dass ich sagen kann: Innere und äußere Haut sind verwachsen, das ist mein Zuhause. Und ich unterstelle mal, dass es Pflegeprofis gibt, die mir dabei helfen können. So ein Pflegeprofi möchte ich jetzt auch selber sein.