07.10.2010

Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich meine Mutter mal unausstehlich finden würde. Meine Mamutschka, die für mich alles getan hat! Die in Heimarbeit über der Nähmaschine geschuftet hat, damit mein Bruder und ich es einmal besser haben. Die mich verwöhnt hat, wenn ich als Kind krank war ...

Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich meine Mutter mal unausstehlich finden würde

Es fing an, als sie wegen ihrer versteiften Wirbelsäule ein Pflegefall geworden war. Ich kümmerte mich abwechselnd mit einer Freundin und meinem Bruder um sie. Eine Zeit lang kam auch ein ambulanter Pflegedienst. Doch sie litt darunter, dass ständig Fremde in ihrer Wohnung auftauchten. Als sie dann die Tür nicht mehr selbst aufmachen konnte, übernahmen wir die Pflege ganz. Dreimal in der Woche nach der Arbeit und jeden Sonntag fuhr ich zu ihr. Das brachte mich bald körperlich an meine Grenzen. Man glaubt ja gar nicht, wie schwer so ein dünner Mensch sein kann, wenn man ihn auf den Lifter heben muss für ein Bad.

Aber noch schwerer war für mich der Druck, jeden Sonntag zu ihr zu müssen, egal, wie ich mich fühlte. Als ich einmal erst um zehn Uhr kam, fragte sie nicht: "Wie geht es dir, brauchst du mal einen freien Tag?", sondern machte mir Vorwürfe. In diesem Ton ging es weiter. Alles machte ich in ihren Augen falsch. Als ich ihr dann die Strümpfe anzog und dabei fast auf dem Boden lag, machte ich das ruppiger als sonst. Und als sie dann auch noch herumschimpfte, dachte ich, gleich schüttel ich sie. Da habe ich mich furchtbar erschrocken über mich. Und mich so geschämt.

Ich empfand das als richtig bösartig in diesem Moment.

Dann wollte ich ihr was Schönes kochen - ich, die ich in ihren Augen ja keine gute Hausfrau bin. Doch beim Kauen ließ sie abfällig das Kinn runterfallen. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, sagte: Mutti, ich kann das nun mal nicht so gut wie du. Ich habe ja auch keine Familie, sonst könnte ich auch nicht so oft kommen. Darauf sie: Eben, du hast keine Familie. Das sind Hiebe, die sitzen. Ich empfand das als richtig bösartig in diesem Moment.

Abends saß ich wie gelähmt auf der Couch. Die Schuldgefühle lagen zentnerschwer auf mir. Streit ist ja eigentlich was Normales, aber wenn der andere so hilflos ist und dann noch die eigene Mutter, das macht einen fertig.

Ich hatte ihr versprochen, dass sie nie ins Pflegeheim kommt.

Erst später wurde mir in Gesprächen mit anderen pflegenden Frauen klar, dass die bösen Gedanken, die ich hatte, normal sind in so einer Situation. Dass ich meine Mutter auch mal unausstehlich finden darf, ohne gleich eine schlechte Tochter zu sein. Ich brauchte wieder mehr Distanz. Aber wie sollte das gehen? Ich hatte ihr versprochen, dass sie nie ins Pflegeheim kommt.

Dann fiel sie eines Abends so unglücklich hin, dass sie zunächst nicht an den Notrufpieper kam, der um ihren Hals hing. Jetzt wollte sie selbst in ein Heim. Neun Einrichtungen schaute ich mir an, die letzte gefiel mir: nicht zu teuer, so dass ihr noch etwas von der Rente bleibt. Mit begrüntem Hof und genügend Pflegekräften, die auch die gehbehinderten Bewohner zum Essen in den Gemeinschaftsraum fahren. Aber hätten wir die Heime doch bloß zusammen besichtigt, als es ihr noch gut ging! Dann hätte sie selbst entscheiden können. Drei Monate ist sie jetzt dort, aber sie lehnt alles ab, verkriecht sich. Und wirft mir vor, ich hätte sie abgeschoben. Wieder fühle ich mich schlecht.

Trotzdem ist für mich vieles leichter geworden. Der Zwang, mich um sie zu kümmern, ist weg. Ich fahre immer noch zweimal in der Woche ein paar Stunden zu ihr, aber ich freue mich darauf. Und es gelingt mir eher, liebevoll zu bleiben, auch wenn sie mir Vorwürfe macht. Neulich hat sie beim Abschied geschimpft: Brauchst gar nicht mehr zu kommen! Ich konnte ihr trotzdem noch einen Kuss geben. Erst vor der Tür merkte ich, wie wütend ich war.

Es gibt auch schöne Momente. Als ich sie beim letzten Mal fragte, ob sie eigentlich noch weiß, wie sie aussieht, zog sie mühsam einen Handspiegel aus dem Nachttisch. Ich sagte: Sieh mal, du hast Haare wie ein Bär. Sie lachte sich kaputt darüber. Dann rief sie ihre Friseuse an. Da wusste ich: Es gibt wieder Hoffnung, für sie und für uns. e

Protokoll: Ariane Heimbach

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