Über die Aufrüstung im Kinderzimmer und am heimischen Computer streiten der Pfarrer und der Hirnforscher
Hedwig Gafga, Autorin
07.10.2010

chrismon: Herr Hartmann, eine Lehrerin beschwert sich, dass eines ihrer Kinder sich mit anderen prügelt. Wie reagieren Sie?

Thomas Hartmann: Wenn es harmlose Raufereien sind, würde ich annehmen, dass die Lehrerin übersensibilisiert und überpädagogisiert ist. Wäre etwas Ernsthaftes vorgefallen, würde ich mich einmischen.

chrismon: Sind wir übersensibel und hysterisch beim Thema Gewalt?

Gerald Hüther: Keinesfalls. Die Medien haben uns reale Vorkommnisse von beängstigender Brutalität gezeigt, Kinder, die nicht aufhören, wenn der andere am Boden liegt, sondern weiter auf ihn einschlagen. Ich erinnere auch an die Bilder aus dem Münchener U-Bahnschacht, wo zwei junge Leute auf einen am Boden liegenden älteren Herrn rasend eingeschlagen haben.

Hartmann: Aber eine bestimmte Generation von Eltern, Erziehern und Lehrern, die von der Friedenspädagogik seit den siebziger Jahren geprägt wurde, reagiert übersensibel. Da ist es schon zu viel, wenn Kinder aus Stöcken Gewehre schnitzen, zielen und "Du bist tot" rufen. Wenn man dagegen Kinder fragt, was sie machen, sagen sie: Wir spielen doch nur.

Hüther: Statt Sündenböcke zu suchen, sollten wir lieber nach den Ursachen dafür fragen, dass Kinder und Jugendliche heute unkontrollierter mit ihren inneren Impulsen umgehen. Die Selbstbeherrschung ist oft nicht genügend ausgebildet. Normalerweise entwickeln Kinder Hemmmechanismen, die sie hindern, in schwierigen Situationen Grenzen zu überschreiten. Wenn Kinder sich selbst beweisen, dass sie etwas leisten können und etwas darstellen, indem sie Gewalt ausüben, dann ist das Ausdruck einer fatalen Fehlentwicklung.

Hartmann: Wenn es so ist, dass wir ein Aggressionspotenzial in uns tragen - darauf können wir uns sicher einigen ...

Hüther: Nein, darauf können wir uns nicht einigen.

Hartmann: Ich rede nicht von einem Instinkt, sondern von einem Potenzial. Durch eine Gewalterziehung, die zu einem bewussten Umgang mit dem Aggressionspotenzial anleitet, könnten wir Aggressionen so kanalisieren, dass sie nicht zerstörerisch werden. Ich unterscheide zwischen spielerischer und zerstörerischer Gewalt, damit wir als Eltern und Pädagogen sensibel dafür werden, wann wir eingreifen sollten und wann nicht.

Hüther: Gewalt ist eine in Notfällen lebensrettende Bewältigungsstrategie, die im menschlichen Hirnstamm, also in einem sehr alten Bereich des Hirns, verankert ist. Gewalt wird erst dann eingesetzt, wenn man keine anderen Bewältigungsstrategien mehr findet. Es gibt keine spielerische Gewalt. Es gibt spielerisches Miteinander, bei dem man seine Kräfte erprobt, seine Motorik und auch seinen Geist schult.

chrismon: Eltern suchen Antworten auf konkrete Fragen. Zum Beispiel: Kinder, vor allem Jungen, wünschen sich Schwerter, Spielzeugpistolen, Power-Ranger-Figuren. Sollen sie sie bekommen?

Hüther: Waffen im weitesten Sinne sind Unterwerfungsinstrumente, das wissen die Kinder. Wir zeigen es ihnen ja ständig im Fernsehen und im Kino. Wenn man Kindern Waffen anbietet, legt man ihnen nahe, die gleichen Strategien einzusetzen: nämlich dass einer den anderen niederschlägt mit Hilfe dieser Waffen. Deshalb empfehle ich Eltern, nach anderen Möglichkeiten zu suchen, wie sie der Entdeckerfreude und Gestaltungslust ihrer Kinder gerecht werden können. Kinder sollten lernen, ihre eigenen Affekte und Impulse zu steuern. Wer dies nicht lernt, wird später im Leben scheitern.

Hartmann: Die Frage ist nicht primär, was Eltern wollen. Die Kinder, insbesondere die Jungs, suchen Möglichkeiten, sich auf einem spielerischen Level miteinander zu messen. Der Psychoanalytiker Christian Büttner sagt, dass Kinder sich notfalls aus Brot Pistolen beißen, wenn man ihnen Spielzeugwaffen vorenthält. Ich muss gar nicht wissen, ob es im Hirn eine Schaltzentrale für Aggression gibt. Es reicht, wenn ich weiß, dass dieses Bedürfnis bei den Kindern da ist. Wenn Kinder mit Spielzeugwaffen toben, ist gar nichts dagegen zu sagen. Nur wenn sie das über Jahre tun und keine anderen Spiele finden, wird es zum Problem.

Hüther: Ich bin nicht Ihrer Meinung. Wer hat denn den Kindern die Idee ins Hirn gepflanzt, dass man Krieg führen muss?

Ich bin in meinem Leben schon tausendmal totgeschossen worden, von Schülern oder meinen eigenen Kindern.

chrismon: Du sollst nicht töten. Aber wenn man es nur spielt, ist es in Ordnung?

Hüther: Nein, eben nicht. Dann gibt man Kindern nämlich eine bestimmte Haltung mit auf den Weg: dass es in Ordnung sein kann, den anderen zu unterwerfen oder gar zu töten.

chrismon: Würden Sie intervenieren?

Hüther: Natürlich würde ich intervenieren, wenn Kinder auf andere einballern. Nur, mit Verboten kommen wir nicht weiter. Wir müssen fragen: Warum willst du den anderen totschießen?

Hartmann: Ich bin in meinem Leben schon tausendmal totgeschossen worden, von Schülern oder meinen eigenen Kindern. Ich bin dann auch zu ihrer großen Freude mal einfach tot umgefallen und wieder aufgestanden. Durch Spielzeugpistolen werden Kinder nicht zum kleinen Terminator. Das Gegenteil ist der Fall. Es kursieren sehr viele Spielzeugwaffen und elektronische Spiele bis hin zu Ego-Shooter-Spielen. Und trotz einiger extremer Vorfälle, die es leider schon immer gab, ist die Gewalt an Schulen nachweislich zurückgegangen.

Hüther: Ich verstehe nicht, welches Ziel Sie mit Ihrer Argumentation verfolgen. Wenn ich nicht wüsste, dass Sie Pfarrer sind, würde ich Sie für einen Vertreter einer Firma halten, die Spielzeugwaffen oder Computerspiele verkauft.

Hartmann: Wenn es ums Raufen und Toben geht, braucht man dafür nichts zu kaufen. Ich sehe mich als Anwalt der Kinder und Jugendlichen. Natürlich finde ich es verheerend, wenn Jugendliche stundenlang alleine vor dem Computer sitzen und bis zum Abwinken "World of Warcraft" spielen.

In einem Fach "Medienkompetenz" könnten die Kinder lernen, bewusst mit Computerspielen umzugehen.

chrismon: Sie schreiben Computerspielen aber auch nützliche Funktionen zu.

Hartmann: Manche Spiele regen zu Aktivität an. Manchmal haben solche Spiele eine entlastende Funktion, Jugendliche reagieren dabei aufgestaute Aggressionen ab. Aber bei einem Teil der Jugendlichen - Studien gehen von etwa zehn Prozent aus - besteht ein ernsthaftes Problem. Da vernachlässigen Eltern ihre Kinder - aus sozialer Not oder Achtlosigkeit. Diese Kinder sollten gesellschaftliche Unterstützung erfahren, etwa in Ganztagsschulen, wo sie an Aufgaben wachsen können.

Hüther: Welche Art von Aufgaben? Denken Sie an schulische Lernprogramme oder Hausaufgaben?

Hartmann: Nein. Man braucht ein pädagogisches Konzept, zu dem auch Unternehmungen außerhalb der Schule gehören. In einem Fach "Medienkompetenz" könnten die Kinder lernen, bewusst mit den Angeboten der Spieleindustrie umzugehen.

Hüther: Worauf wollen Sie hinaus? Wollen Sie Eltern vermitteln, dass Kinder eine ihnen innewohnende Gewaltbereitschaft haben, die ausgelebt werden muss? Damit geben Sie ihnen regelrecht die Legitimation, die Kinder vor Computerspielen zu parken.

Hartmann: Nein, im Gegenteil. Ich halte es für wichtig, beim Computerspielen zeitliche Grenzen zu setzen. Und ich plädiere dafür, dass Eltern zumindest die Alterskriterien der Unterhaltungssoft-ware-Selbstkontrolle beachten. Ego-Shooter-Spiele sind für Erwachsene gemacht.

Hüther: Sie müssen doch fragen, warum diese Spiele produziert werden und was daran fasziniert. Kinder haben zwei Grundbedürfnisse: Sie wollen mit anderen Menschen verbunden sein, wertgeschätzt, anerkannt. Und sie wollen wachsen, autonom werden, ihre Potenziale entfalten. Sie wollen zeigen, dass sie etwas können, und brauchen Herausforderungen. Sonst bleiben sie in ihrer Entwicklung hängen und suchen nach Ersatzbefriedigung. Computerhersteller bieten solche Ersatzbefriedigungen an. Und Kinder greifen diese Angebote um so begeisterter auf, je stärker sie in der Gesellschaft nur noch zu Pflichterfüllern erzogen werden, die ein Förderprogramm nach dem anderen durchlaufen. Hartmann: Deswegen erscheinen Computerspiele manchmal als Ausweg.

Hüther: Es gibt andere sinnvolle Aufgaben.

chrismon: Zum Beispiel?

Hüther: Ich habe das thüringische Kultusministerium für ein Projekt "Neue Lernkulturen in Kommunen" begeistern können. Dort können Kinder und Jugendliche verschiedene Vorhaben in der Kommune aktiv gestalten: einen Streichelzoo bauen, ein Museum erstellen, ein Theater aufbauen, ein Unternehmen gründen.

Hartmann: Das unterstütze ich, aber glauben Sie wirklich, dass sie dann keine Lust mehr haben zu raufen?

Hüther: Ja, in dem Augenblick, wo Kinder die Erfahrung machen, dass es mehr Spaß macht, gemeinsam eine Aufgabe zu bewältigen, als sich gegenseitig zu verprügeln.

Hartmann: Das ist doch überhaupt kein Widerspruch. Man kann freundschaftlich miteinander raufen und Aufgaben lösen.

Hüther: Es geht darum, was für eine Haltung unsere Kinder entwickeln. Sie als Pfarrer müssten eigentlich alles tun, um Gewalt einzudämmen, zu transformieren.

Hartmann: Genau, deswegen finde ich ja, dass Antiaggressivitäts-und Coolness-Training für Kinder wichtig sind und auch asiatische Kampfsportarten wie Taekwondo. Man muss sich der eigenen Aggressivität stellen. Sie ist nun einmal in jedem von uns.

Hüther: Nein, Gewalt ist kein individuelles, sondern ein soziales Phänomen. Es ist wissenschaftlich nicht haltbar zu behaupten, dass der Mensch ein angeborenes Aggressionspotenzial ausleben müsse. Wenn man Kindern nicht zeigt, wie man auf zwei Beinen läuft, laufen sie nicht auf zwei Beinen. Komplexe Verhaltensweisen sind nicht genetisch verankert. Sie werden durch soziale Erfahrungen erworben, also anhand von Vorbildern erlernt. Wir haben die Option, einander totzuschlagen. Und wir haben auch die Option, nach gewaltfreien Lösungen unserer Konflikte zu suchen. Die Tatsache, dass dies in der Menschheitsgeschichte nicht immer versucht worden ist, ist kein Zeichen dafür, dass der Mensch von Natur aus aggressiv ist. Es zeigt nur, dass es ihm trotz des Vorbilds Jesu Christi immer noch nicht gelungen ist, Potenziale für ein friedvolles Zusammenleben zu entfalten.

Hartmann: Das wird Ihnen auch nicht gelingen. Jesus wusste, dass es eine friedliche Welt nur unter dem Vorzeichen des Reiches Gottes gibt. Meine Absicht ist, die Aggressionen, die in der Welt sind, so weit wie möglich in nicht destruktive Bahnen zu lenken. Es gibt auf Erden keine heile Gesellschaft, und wir können den reinen friedfertigen Menschen nicht künstlich erschaffen.

Hüther: Sie beobachten bestimmte soziale Phänomene und schließen daraus, dass der Mensch so sei. Aber das geht nicht, dann verliert man jede ethische Orientierung.

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