Katrin Binner
Der Lockruf der Erdkrume
Sie hatte keine Ahnung vom Gätnern. Auf einmal beackert sie ein Stück Land
Tim Wegner
17.09.2013

Rita Velasquez, 48:

Ich sah den Zettel im Wartezimmer: „Garten sucht Gärtner/in.“ Der Garten werde seit 40 Jahren biologisch bewirtschaftet, er sei groß, er übersteige ihre Kräfte, sie seien 80 Jahre alt. Ich sagte zu meinem Mann: Torsten, da gibt es einen Garten, möchtest du das mit mir machen? Und mein Mann: Wie stellst du dir das vor? Mit deinen Reisen, deiner Arbeit – du kommst fast nie nach Hause. 

Ja, ich arbeite viel. Ich verpflichte mich gerne. Das habe ich zu Hause schon geübt, in Kolumbien. Mit 13 übernahm ich die Verantwortung für meine fünf jüngeren Geschwister. Wir lebten auf dem Land. Dort gab es keine weiterführenden Schulen. Also kaufte mein Vater ein Haus in der Stadt, damit wir weiter zur Schule gehen konnten. Da haben wir Kinder werktags gelebt. Nur am Wochenende waren wir mit den Eltern zusammen.

Später habe ich Betriebswirtschaft studiert. Heute arbeite ich bei Medico International in Frankfurt. Ich mache die Finanzprüfung für die ausgegebenen Spenden- und Fördergelder, ich begleite die Projekte von Anfang bis Ende. Ich bin gewissenhaft. Ich fühle mich verantwortlich. Deshalb möchte ich gern gleich antworten, wenn ein Projektpartner irgendwo in der Welt eine Frage stellt. Egal wie spät am Abend es ist. Ich mag meine Arbeit, aber ich schaffe es einfach nicht, sie zu begrenzen.

Nie hatte ich an einen Garten gedacht. Aber der Zettel war für mich wie ein Ruf. Ich trug die Kopie tagelang mit mir herum, dann fragte ich meine Nachbarn im Haus, ob sie mitmachen wollten. Wir haben alle wenig Zeit und wenig Ahnung vom Gärtnern. Aber zu viert könnten wir es schaffen, dachten wir, und wir könnten von Helga und Alfred lernen. Sie ließen sich viel Zeit, bis sie mit uns einen Termin ausmachten. Aber dann sagten sie: Gut, wir machen das zusammen.

Mein Trick: Mit dem Garten setze ich meiner Arbeit eine Grenze

Der Garten ist für mich ein Trick, um meiner Arbeit eine Grenze zu setzen. Ja, ich habe mich ausgetrickst. Wenn es Abend wird, sage ich mir: Die Pflanzen brauchen Wasser! Ich komme jetzt auch nicht früher nach Hause, aber den Garten kann mein Mann akzeptieren. Er wollte mich ja immer nur schützen vor zu viel Arbeit. Er kommt abends einfach auch in den Garten, sozu­sagen als Ehrengast. Er macht es sich gemütlich und liest Zeitung. In mein Büro wäre er nicht gekommen, um zu lesen.

Es ist so schön, von Helga und Alfred zu lernen! Am Anfang habe ich beim Säen nur drei Samen eingesetzt. Aus keinem wurde eine Pflanze. Helga und Alfred haben mir dann gesagt: Wenn man ernten will, darf man nicht nur an sich denken, sondern man muss auch an einen Vogel denken, an noch einen Vogel und einen dritten Vogel. Erst aus dem vierten Samenkorn wird – zum Beispiel – ein Salatkopf, den man ernten kann.

Ich habe schon einiges falsch gemacht

Ich habe schon einiges falsch gemacht. Alfred bat mich, bald die Zuckererbsen zu pflücken, weil sie sonst holzig werden. Ich erntete stattdessen die unreifen Bohnen. Helga sagte, die könne man trotzdem essen. Sie weiß so viel! Neulich habe ich aus den jungen Blättern von Unkraut ein Gericht gekocht – aus Brenn­nessel, Beinwell und Giersch. Es war sehr lecker.

Jetzt habe ich einen kleinen Kräutergarten angelegt, mein Bruder in Kolumbien hatte mir in einem Briefumschlag Samen geschickt: Poleo, Guatacay, Chilangua. Ich vermisse meine Geschwis­ter schon sehr. Jede Schwester, jeder Bruder ist still geworden, als ich am Telefon erzählte: „Stell dir vor, ich habe einen Garten.“

Ich weine! Entschuldigung. Ich glaube, die Geschwister sind still geworden, weil sie sich gesagt haben: „Jetzt kommt Rita nicht mehr zurück. Denn jetzt hat sie einen Garten. Jetzt ist Rita richtig weg. 25 Jahre nach ihrer Abreise.“ Ja, ich habe mich wohl noch mal ganz anders verwurzelt, seit ich ein Stück Erde habe.

Wir lachen viel miteinander. Einmal im April hatte Alfred gesagt, ich solle die Erdbrocken im Kürbisbeet zerkleinern. Ich zer­krümelte sie mit den Händen. Das war anstrengend. Komisch, dachte ich, die Deutschen finden doch sonst für alles eine technische Lösung, warum muss man gerade die Erde mit den Händen zerkrümeln? Natürlich gab es eine kleine Egge im Schuppen.

Am Anfang trauten uns Helga und Alfred das Gärtnern wohl nicht zu. Sie guckten fragend. Aber jetzt sind sie froh über unsere Hilfe. Es ist eine gegenseitige Freude. Ich danke dem Leben.

Protokoll: Christine Holch

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