Ich war Fluglotse, da geht man auch privat am Steuer kein Risiko ein. Deshalb meldete ich mich, als ich 75 wurde, beim ADAC zu einer Nachschulung an. Da lernten wir älteren Herrschaften zum Beispiel, wie man die neuen Automatik-Autos bedient, wir übten einparken und erfuhren viel über neue Verkehrsschilder. Als ich vor 60 Jahren meine Führerscheinprüfung abgelegt habe, war ja alles noch anders: Es gab keine Geschwindigkeitsbegrenzung und keine Anschnallgurte; die meisten Verkehrszeichen habe ich erst durchs Fernsehen kennengelernt.
Nach dem Kurs fuhr ich auch die nächsten zehn Jahre unfallfrei, mit dem Wohnwagen sogar bis nach Portugal. Aber mit 86 fiel mir auf, dass ich das Martinshorn viel zu spät höre. Man erschreckt sich ja fast zu Tode, wenn plötzlich ein Rettungswagen hinter einem auftaucht. Also ließ ich meine Ohren überprüfen und legte mir ein teures Hörgerät zu.
Ich fühlte mich wieder sicher und fuhr weiterhin auf meine dänische Lieblingsinsel Samsö. Allerdings machten mich die sechsstündigen Nachtfahrten mit Fährüberfahrt ziemlich fertig. Das hab ich natürlich niemandem erzählt. Denn mein Auto bedeutete für mich Unabhängigkeit. Im Alter kämpft man ja um jedes Stück Freiheit. Mir graute davor, nicht mehr selbst entscheiden zu können, wann ich losfahre und wie lange ich bleibe.
Ich nahm einem Auto die Vorfahrt. Dann übersah ich eine rote Ampel ...
Auf einer meiner 600-Kilometer-Touren merkte ich, dass ich Autobahnausfahrten übersehe. Also ließ ich mir eine Fernbrille anpassen. Als meine erwachsenen Enkelsöhne das hörten, schimpften sie: „Opa, musst du mit Mitte 80 immer noch nachts nach Dänemark fahren? Das ist doch viel zu weit! Bist du nicht zu alt für den Wahnsinn auf den Straßen?“ Fand ich nicht.
Vor ein paar Monaten passierte es dann: An einer Kreuzung nahm ich einem PKW die Vorfahrt. Es kam zwar niemand zu Schaden, doch der Schreck saß mir in den Knochen. Kurz darauf fuhr ich meine Enkelin Marie nach Hause. Plötzlich schrie sie: „Opa, stopp! Da ist doch rot, siehst du die Ampel denn nicht?“ Und ich: „Welche Ampel, Marie?“ Ich trug eine Brille, ich hatte ein Hörgerät, ich bin geistig topfit, und trotzdem hatte ich uns in Gefahr gebracht. Ich entschuldigte mich bei Marie und fuhr von da an nur noch bis zum nächsten Supermarkt, um Wasserkisten und Wein zu kaufen.
Dann erfuhr ich aus dem Fernsehen, dass viele Senioren 5000 Euro im Jahr für Reparaturen am Auto und Kfz-Versicherungen ausgeben, obwohl sie kaum noch fahren. Genau wie ich. Mensch, dachte ich, mit 5000 Euro kann ich mich doch auch bequem in ein Taxi setzen und spare noch Geld!
Jetzt muss ich mich nicht mehr um Winterreifen und Batterien kümmern
Meine Enkel versprachen mir, mich auf dem Beifahrersitz mit nach Samsö zu nehmen. Sie sagten: Opa, einer von uns fährt doch eigentlich immer nach Samsö und holt dich einfach ab! Und als kurz darauf die alte Karre meiner Enkelin Pia kaputtging, schenkte ich ihr meinen schönen Wagen. Sie freute sich so. Als sie damit davonfuhr, machte ich ein letztes Foto. Ich habe den Abschied lange hinausgezögert. Am Ende fiel er mir leichter als befürchtet.
Heute vermisse ich nichts. Ich bin froh, dass ich mich nicht mehr um Winterreifen und funktionstüchtige Batterien kümmern muss. Ich hab mir ein City-Bike mit Acht-Gang-Schaltung gekauft und ein Sammelticket im Sechserblock, mit dem ich sechs mal 120 Minuten am Stück Bus fahren kann. Zum Einkaufen fahre ich mit dem Rad, und wenn ich Freunde oder Enkel besuche, nehme ich den Bus oder gönne mir ein Taxi.
Neulich beobachtete ich, wie sich eine 90-Jährige mühsam mit Gehhilfe hinter das Steuer setzte. So etwas ist purer Leichtsinn! Wer nicht mehr laufen kann, sollte auch nicht Auto fahren. Man ermüdet im Alter schneller, die Sehfähigkeit lässt nach, und der Schulterblick fällt schwer. Jetzt habe ich meinem Schwiegersohn, der ist 70, die Nachschulung empfohlen. So verrückt, wie die Leute heute auf der Straße unterwegs sind, sollte man sich selbst rechtzeitig aus dem Verkehr ziehen. Gut, dass meine Enkel nicht lockergelassen haben.
Protokoll: Silia Wiebe
Kein Einzelfall
Ziemlich fassungslos habe ich den o.a. Artikel gelesen und dabei an einen Unfall gedacht, wo eine 86-jährige Frau an der Ampel – die für sie auf rot stand – zwei Fußgänger überfahren hat. Beide Fußgänger kamen mit sehr schweren Verletzungen ins Krankenhaus.
Ich bin auch nicht mehr taufrisch, habe aber überhaupt kein Verständnis für Menschen, die mit 87 (!) Jahren noch Auto fahren. Es ist nicht nur der Straßenverkehr, die neuen Autos haben dermaßen viel neue Technik bzw. Elektronik, dass ein alter Mensch damit einfach nicht mehr klar kommen kann.
Und sich dann über eine 90-jährige aufregen, die sich mühsam mit Gehhilfen hinter das Steuer setzt und sich darüber mokieren. Da fällt mir nur der Spruch ein: Wer im Glashaus sitzt …. Herr Lange konnte weder richtig hören noch sehen. Deshalb sollte er sich freuen, dass er noch so gut beisammen ist und keine Menschen zu Krüppeln gefahren hat.
Leider weiß ich, dass Herr Lange kein Einzelfall ist. Ich sehe es jede Woche, wenn ich meinen Wocheneinkauf mache. Teilweise ist es einfach erschreckend, wenn man sieht, welches Alter sich hinter welches Lenkrad setzt. Die Autos mit 200 PS sind Waffen in den Händen der Fahrer. Laufen, gucken und hören können wir zwar nicht mehr, aber ein Auto fahren !!!
6. Juli 2012
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