Sie haben Menschen zu ihren Outdoorerlebnissen befragt. Was ist eigentlich Outdoor?
Marcel Beaufils: Drinnen zu sein bedeutet, zu Hause zu sein, im Alltag, der immer gleich abläuft und einen auch einengt. Outdoor meint nicht einfach nur, raus in die Natur zu gehen, sondern vor allem, dass man neue Herausforderungen sucht und eine kleine oder größere Bewährungsprobe besteht. Dabei ist auch immer etwas Unsicherheit dabei, etwas, das sich nicht ganz planen lässt, sei es auch nur, dass einen der Regen überrascht. Diese Krise gilt es zu bewältigen und Durchhaltevermögen zu beweisen, kleine Schrammen werden oft auch gern stolz präsentiert.
Ist die Natur dabei überhaupt wichtig?
Das Naturerlebnis ist zentral. Wenn ich zum Beispiel in den Bergen bin, merke ich, wie groß und gewaltig die Natur ist und fühle mich auf einmal klein. Diese Demutserfahrung relativiert viele Probleme, die man vielleicht gerade hat, und wirkt beruhigend. Viele merken, dass sie nicht das Zentrum der Welt sind, dass es etwas gibt, das größer ist als sie selbst, und dass sie nicht allein für alles verantwortlich sind. Das ist eine Erfahrung, die andere in der Kirche machen. Deshalb würde ich sagen: Outdoor is the new church. Was die Leute früher in der Religion suchten, finden sie heute in der Natur.
Hat diese Erfahrung auch etwas Bedrohliches?
Manche suchen ja gerade den Kick durch die Gefahr, etwa beim Surfen im Meer, beim Downhill-Mountainbiken. Vielleicht nicht beim Wandern, da geht es ja eher darum, dem eigenen Rhythmus zu folgen. Die Leute haben auch ein großes Bedürfnis danach, die Jahreszeiten und ihren eigenen Körper zu spüren, mal rauszukommen aus dem Wohltemperierten.
Ist das vor allem ein Bedürfnis von Städterinnen und Städtern?
Leute, die sich im sehr kultivierten städtischen Rahmen bewegen, sehnen sich vielleicht noch etwas mehr nach dem Ursprünglichen als Menschen, die ländlicher leben und der Natur näher sind. Aber ich denke, es ist ein universaler Trend geworden. Gerade weil wir so viel in der digitalen Welt unterwegs sind, brauchen wir analoge Erlebnisse. Analoger geht es kaum, als selbst ein Feuer zu machen, beim Übernachten draußen die Kälte zu spüren und keinen Handyempfang zu haben.
Marcel Beaufils
Claudia Keller
Früher gingen nur die Älteren wandern. Heute begegnet man in den Münchner Hausbergen auch vielen Zwanzigjährigen.
Die Unterschiede nach Altersgruppen lösen sich ebenso auf wie die Unterschiede zwischen Stadt und Land. Ich unterscheide lieber nach vier Verfassungen.
Verfassungen?
Man möchte einen bestimmten emotionalen Zustand erleben, eine Verfasstheit. Die eine Verfasstheit nenne ich gerahmten Eskapismus: Wenn man schnell mal aus dem Alltag ausbricht, einen kurzen Ausflug in den Stadtwald macht. Für manche ist es auch eine Herausforderung, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren.
Welche Verfasstheiten kennen Sie noch?
Die klassische Naturliebe: Hier möchte man tief in die Natur und in seinen persönlichen Flow kommen, der einem hilft, richtig abzuschalten und die Umgebung aufzusaugen. Das kann ich beim Wandern oder beim Schwimmen, wenn ich ganz im anderen Element bin. Viele fühlen sich danach gestärkt. Daneben gibt es noch den "Urban Warrior", der das heroisch-kämpferische Erlebnis sucht – oder sich zumindest so inszeniert.
Im Tarnfleck?
Outdoor hat viel mit dem Mythos der Heldenreise zu tun. Das Heldenhafte besteht darin, dass man einen Prozess durchmacht, sich in Form bringt, trainiert, sich zu etwas überwindet – aber eben im total geschützten städtischen Umfeld. Wenn die Leute in die 50 Zentimeter tiefe Isar gehen oder im Park Klimmzüge an Klettergerüsten machen, passiert ja nichts. Aber mit der entsprechenden Ausrüstung – etwa auch mit Funktionsunterwäsche mit Heldenmotiven wie Spiderman – kann man sich als Kämpfer fühlen.
"Der Survivor will die Natur heroisch überwinden"
Dafür muss ich nicht über den Amazonas paddeln?
Das kommt dann eher für den Survivor-Typ infrage. Das ist die intensivste Outdoorform, da geht es wirklich um die Auseinandersetzung mit den Elementen. Der Survivor möchte nicht eins mit der Natur werden, sondern sie heroisch überwinden. Er will zeigen, dass er etwas kann, er will sich weiterentwickeln, die Aufregung spüren, sich auch ins Gefährliche wagen, etwa beim Wildwasserkajak oder Fallschirmspringen.
Könnte der Outdoorboom die Innenstädte verändern?
Viele wünschen sich mehr Natur und Outdoormöglichkeiten in der Stadt. Vielleicht könnte man leer stehende Läden zu Erwachsenenspielplätzen umgestalten: mit Kletterwänden, Slacklines und vielem anderen. Aber das darf nicht so angelegt aussehen, nicht so clean. Auch aus leer stehenden Kirchen könnte man Kletterhallen machen, in denen man auf neue Weise Demut einüben könnte.
Welche Rolle spielt die Gemeinschaft?
Die Gemeinschaft bietet einen Rahmen und auch Sicherheit. Viele gehen zum Beispiel gern mit einer Gruppe in die Berge. Aber es geht schon viel um das eigene Ich. Die anderen sind wichtig, damit ich die Erlebnisse teilen kann. Viele wollen ihre sportliche Leistung mit anderen vergleichen. Das ist paradox, weil die Leute das ja eigentlich machen, um aus dem Alltag rauszukommen, wo sie ständig Leistung bringen müssen.
"Verbote helfen nicht weiter"
Mit dem Mountainbike durch den Wald zu brettern, schadet der Natur. Sind sich die Leute dessen bewusst?
Das Bewusstsein wächst, aber da ist noch viel Luft nach oben. Wer die Natur wirklich liebt, würde sie ganz in Ruhe lassen. Aber vernünftig zu sein, ist Teil des Alltags, aus dem man ja gerade eine Weile aussteigen möchte. Verbote helfen in der Outdoorwelt nicht viel weiter.
Was würde helfen?
Man muss die Leute bei der Ehre packen. Man könnte ihnen sagen: Wenn du wanderst, zeigt das ja schon, dass du die Natur gut findest. Vielleicht kannst du noch ein bisschen mehr tun und deinen Müll mitnehmen? Es kommt sehr auf die Bilder an, über die man die Botschaften transportiert. Und zum Glück können Männer heute männlich sein – und liebevoll mit der Natur umgehen.
Was hat Corona verändert?
Viel mehr Menschen wissen jetzt, dass es guttut, draußen zu sein. Außer der körperlichen Betätigung draußen gibt es ja gerade fast keine Möglichkeiten, etwas Intensives zu erleben, Partys, Feiern, Konzerte haben lange nicht stattgefunden.
Na ja, Herausforderungen warten überall. Man könnte sich für andere engagieren, denen es nicht so gut geht, etwa in der Obdachlosenhilfe. Ist der Outdoorboom vor allem etwas für Wohlhabende?
Ich habe schon den Eindruck, dass das ein Lifestyle eher für Akademiker ist. Das schicke Rennrad oder Skifahren in der Schweiz kann sich nicht jeder leisten. Da mustert man sich auch gegenseitig: Wer hat welche Klamotten an, von welcher Marke? Das Schöne am Outdoor ist ja aber eigentlich, dass es dafür wenig braucht. Einfach mal losgehen kann jeder.