Vom Opfer zur Beraterin: Ausbildung ehemaliger Zwangsprostituierten in Stuttgart
Auf Augenhöhe
In Stuttgart bildet ein Verein ehemalige Opfer von Zwangsprostitution zu Beraterinnen aus, denn sie sind die wahren Expertinnen.
Foto von Luam Okbamicael. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin im FIZ, demFraueninformationszentrum in Stuttgart
Die Sozialarbeiterin spricht mit Happy C., die anonym bleiben möchte – sie wird noch immer verfolgt
Verena Müller
Tim Wegner
15.05.2022

"Frauen, die ihr Leben lang Opfer von Menschenhändlern waren, sind die besten Expertinnen darin, zu erklären, wie man diesem Teufelskreis entkommt", sagt Luam ­Okbamicael, Sozial­arbeiterin im Fraueninformations­zentrum (FIZ) in Stuttgart. Ihre Klientinnen sind Frauen aus dem Ausland, Opfer von "geschlechts­spezifischer Verfolgung": Menschenhandel, Arbeits­ausbeutung, Zwangsprostitution.

Ein Schwerpunkt der Arbeit in Stuttgart liegt bei Frauen aus Westafrika. In ­Ländern wie Nigeria oder Togo gibt es eine lange und traurige Tradition des Menschenhandels. Junge Frauen werden von Schleusern mit falschen Versprechen aus der Heimat fortgelockt – "in Italien kannst du als Krankenschwester auch ohne Sprachkenntnisse arbeiten" – und gezwungen, die Reisekosten abzuarbeiten; ihr Leidensweg führt oft durch mehrere Länder Europas.

Happy C.*, die an diesem Tag für ein Gespräch ins Zentrum gekommen ist, hat es erlebt. Sie wurde in Nigeria geboren, als Kind verkauft, versklavt, zur Prostitution gezwungen und von einem Menschenhändlerring nach Europa verschleppt.

Happy C. wird vom Opfer zur ehrenamtlichen Beraterin

Vor sechs Jahren gelang ihr die Flucht nach Deutschland und sie wurde im FIZ als Opfer ­beraten. Als die Einrichtung vor zwei Jahren mit ihrem "Multi­plikatorinnen-Peer-Support" begann, war Happy C. dabei. Ehrenamtliche Aktivistinnen wie sie können sehr niedrigschwellig beraten, sagt FIZ-­Mitarbeiterin Luam Okbamicael. Die Aktivistinnen schaffen eine Vertrauensbasis und informieren über notwendige Behördengänge. Für Spezialfragen gibt es Einzelgespräche und Super­visionen. Aufgenommen in den Kreis, der heute über 15 Aktivistinnen aus Westafrika umfasst, werden nur Frauen, deren Aufenthaltsstatus in Deutschland geklärt ist und die physisch wie psychisch so gefestigt sind, dass sie eine gewisse professionelle Distanz halten können, selbst wenn die Geschichten, die sie hören, wie ihre eigenen klingen. Von dem Programm profitieren auch die Helferinnen: Sie erfahren sich nach Jahren des Zwangs als selbstwirksam.

140 Jahre alt - Jubiläum 2022

Das FIZ feiert in diesem Jahr 35. Geburtstag. Noch viel älter als das Zentrum in Stuttgart ist der über­geordnete Trägerverband, der "vij" (Verein für Internationale Jugend­arbeit). Schon 1882 hatten evangelische Frauen einen "Freundinnen"- Verband zum Schutz junger Frauen gegründet – die kamen damals nicht aus dem Ausland, sondern vom Land in die Großstadt. An den Bahnhöfen wurden sie von Zuhältern abgefangen. Es entstand in Berlin die erste Bahnhofsmission. Hauptziel des Bundesvereins, zu dem viele Landesverbände und Einzel­einrichtungen wie das FIZ-Stuttgart gehören, Menschen zu helfen, die schutzsuchend nach Deutschland kommen, aktuell auch Flüchtenden aus der Ukraine. Das 140. Jubiläum wird im Juni 2022 gefeiert.

Spendeninfo

Fraueninformationszentrum Stuttgart
Moserstraße 10, 70182 Stuttgart,
Tel.: 0711 23941-24, Mail


Spenden:
Verein für Internationale Jugendarbeit e. V.
BW-Bank, IBAN: DE92 6005 0101 0002 7110 05
Stichwort: chrismon

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