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Das Besuchen hat eine lange Tradition. So liest man zum Beispiel bei Jesus Sirach, dem israelitischen Weisheitslehrer aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus: „Reiche dem Armen deine Hand. Erfreue jeden, der es für sein Leben braucht, mit einer Gabe. Und den Toten verwehre die letzte Wohltat, ein anständiges Begräbnis, nicht. Lass die Weinenden nicht ohne Beistand, sondern trauere mit den Trauernden. Zögere nicht, einen Kranken zu besuchen; denn dafür wird man dich lieben.“
Die biblischen Geschichte zum Advent erzählen von wunderbaren Besuchen: ein Engel kommt zu Zacharias, danach besucht er Maria, danach besucht diese Elisabeth. Wunderbare Bilder sind über die Besuche gemalt worden – heilige Vorbilder all der Adventsbesuche, die wir normalerweise gemacht haben.
Mich beschäftigen in diesen Wochen besonders diese bekannten Verse aus dem Ende des Matthäusevangeliums. Interessant ist an ihnen nicht das apokalyptische Setting: Am Jüngsten Tag sitzt Christus auf dem Thron und spricht sein Urteil über Gerechte und Ungerechte. Wichtiger ist, wie er sein Urteil begründet. Den Gerechten sagt er: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.“ Darin stecken zwei entscheidende Hinweise.
Zum einen: Man begegnet Gott nicht in einem metaphysischen Sonderraum, sondern in jedem Menschen, dem man sich barmherzig zuwendet.
Zum anderen: die Bedeutung des Besuchs. Nach dem Flüchtlingssommer 2015 wurde viel über die Aufnahme von Fremden nachgedacht. Liest man diese Liste der barmherzigen Werke aber heute, fällt etwas ganz anderes auf, nämlich dass zwei Mal vom Besuchen die Rede ist. So sind diese Verse das Gründungsdokument einer christlichen Seelsorge, die gerade jetzt gebraucht wird. Sie ist nicht nur die Aufgabe der Amtsträger, sondern aller Christen, aller Menschen guten Willens.
In diesem Jahr ist vieles anders. Besuche sind gar nicht mehr selbstverständlich. Oft sind sie schlicht nicht möglich. Manchmal muss man aber streiten, also das Recht auf Besuch erkämpfen. So war es in den allerersten Wochen des ersten Lockdowns bei Altenheimen und Krankenhäusern. Und jetzt, mit Blick auf Weihnachten, wie viel wird möglich oder unmöglich sein? Darüber gibt es in der Politik, aber auch in vielen Familien Auseinandersetzungen, manchmal auch Streit.
Diese Not zeigt an, was wichtig ist im Leben – worüber man sich aber erst wieder verständigen muss, hoffentlich auf freundliche Weise. Manchmal macht eine Not erfinderisch oder lässt einen zu fast schon vergessenen Kulturtechniken zurückgreifen. So habe ich in diesen Wochen ganz altmodisch Postkarten verschickt, mit meiner schrecklichen Handschrift auf der einen und einem schönen Bild auf der anderen Seite.
P.P.S.: Das ist ja wie in der DDR!“ - in meinem Podcast gibt es jetzt ein Gespräch mit dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz über die Frage, warum Ost- und Westdeutsche sich so schwer verstehen. Man kann dies am einfachten über die Website von reflab.ch hören.