Lehren aus Corona
Gebt den Kindern eine Stimme!
Junge Menschen haben unter den Maßnahmen während der Pandemie gelitten, sagt der Kinderethiker Christoph Schickhardt. Sein Vorschlag: Eltern wählen für ihre Kinder, damit die Politik die Jugend nicht mehr übergeht
Ob der Sohn ihr sagt, wen er wählen würde? Und warum? Mutter mit Kind in einer Wahlkabine in Miesbach
Ob der Sohn ihr sagt, wen er wählen würde? Und warum?
picture alliance/SZ Photo/Florian Peljak
Tim Wegner
17.04.2024
4Min

In Ihrem Buch analysieren Sie, was aus kinderethischer Sicht falsch gelaufen ist in der Corona-Politik, machen aber auch Verbesserungsvorschläge – und plädieren zum Beispiel für ein verändertes Wahlrecht. Wie genau sollte es aussehen?

Christoph Schickhardt: Ich schlage vor, dass Eltern pro Kind eine zusätzliche Stimme erhalten, die sie stellvertretend für die Interessen ihres Kindes treuhänderisch abgeben müssen.

Suhrkamp Verlag

Christoph Schickhardt

Christoph Schickhardt ist Philosoph und arbeitet als Wissenschaftler am Deutschen Krebsforschungszentrum und Universitätsklinikum Heidelberg. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Ethik der Biomedizin und die Kinderethik, zu der er seine Dissertation schrieb. Schickhardts Buch heißt: "Nicht systemrelevant", ISBN 978-3-518-47265-1, 175 Seiten, 18 Euro

Müssen?

Ja, die Kinderstimme abzugeben, sollte eine Pflicht sein. Die Eltern müssen ihr Kind bei der Wahl einbeziehen, also mit ihm reden über Fragen wie: Wie willst du leben, was ist dir wichtig? Ab 14 und bis 16 Jahre erhält das dann bereits jugendliche Kind ein Vetorecht, wie die Eltern für sie oder ihn wählen – und ab 16 Jahren bekommen Jugendliche das volle Wahlrecht, nicht erst ab 18. Auch in anderen Lebensbereichen traut man den Eltern zu, für und mit ihren Kindern zu entscheiden. Warum dann nicht bei Wahlen?

Weil im Wahllokal niemand weiß, ob Eltern ihre Kinder wirklich mit einbezogen haben bei ihrer Wahlentscheidung?

Man kann nicht alles absichern. Aber Eltern reden mit ihren Kindern und wissen, was ihnen wichtig ist. Und je reifer Kinder werden, desto klarer wird es. Diesen Gedanken findet man übrigens heute schon im Bürgerlichen Gesetzbuch: Eltern sollen der wachsenden Selbstbestimmung der Kinder in der Erziehung Rechnung tragen.

Lesen Sie hier: Warum die Grippe-Impfung für Kinder wichtig ist

Warum machen Sie diesen Vorschlag?

Kinder haben in Öffentlichkeit und Politik ein geringes Gewicht. Abgeordnete in den Parlamenten agieren in aller Regel so, dass sie wiedergewählt werden. In der Pandemie wussten sie, dass sie von dieser Gruppe – in Deutschland sind das immerhin fast 14 Millionen Menschen – bei Wahlen nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten, sieht man einmal von den Jugendlichen ab, die während der Pandemie volljährig wurden. Ob bewusst oder unbewusst: Ich bin sicher, dieser Umstand spielt für Politikerinnen und Politiker eine Rolle. Wir wissen, dass besonders viele Stimmen von den über 50 Jahre alten Menschen kommen, denen in der Pandemie das Gros der Schutzmaßnahmen galt. Und als im Frühjahr 2020 diskutiert wurde, wer was öffnen darf, ging es um die Bundesliga oder die Friseurgeschäfte. Viele Interessengruppen sprachen damals mit mächtiger Stimme. Aber Kinder oder Stimmen für Kinder waren nicht darunter.

In den drei Pandemiejahren 2020, 2021 und 2022 sind in Deutschland rund 161.500 Menschen an oder mit Corona gestorben. Im Nachhinein fällt es schwer zu sagen: Die Kinder und Jugendlichen haben zu große Opfer gebracht. Ist das ein Dilemma?

Es geht nicht darum, das Leid und Sterben gering zu schätzen. Ich will mit meinem Buch auch nicht in Zweifel ziehen, dass man Schutzmaßnahmen treffen musste. Besonders in den ersten Wochen – mit den Bildern aus Norditalien – waren wir außerdem in einer schweren Krise, die für alle neu war. Aber auch noch Monate später gab es in vielen Medien einen extrem starken moralischen Druck: Die Jungen sollten mit den besonders gefährdeten Alten solidarisch sein und dürften sich nicht beklagen.

"Es galt als Tabu, wenn man auf das Leid bestimmter Gruppen hingewiesen hat"

Christoph Schickhardt

Mit Blick auf die höhere Sterblichkeit in älteren Bevölkerungsgruppen und die knappen Intensivbetten war das ja auch nachvollziehbar.

Ja, aber es galt als Tabu, wenn man überhaupt auf das Leid bestimmter Gruppen hingewiesen hat – als würde man damit das Leid anderer Menschen zwangsläufig übersehen. Die Frage ist: Ist es in der Pandemie gerecht zugegangen? Ich finde, das war nicht so, denn Kinder wurden in der Pandemie von der Politik nicht gehört. Die Maßnahmen, die stark auf ihre Kosten gingen – und heute als teilweise wirkungslos eingeschätzt werden -, wurden nicht bewertet oder überdacht. Es fehlte auch an flankierenden Abfederungs- und Schutzmaßnahmen für besonders verletzliche oder benachteiligte Kinder und Jugendliche.

Welches Versäumnis gegenüber den Kindern in der Corona-Zeit hat Sie am meisten schockiert?

Mich erschreckt dieses Muster, das man am Beispiel Kindergesundheit erkennt. Man wusste seit 15 Jahren, dass Kinderabteilungen in Kliniken wegen systematischer Unterfinanzierung geschlossen wurden. Hilferufe von Pädiatern gab es, aber sie wurden überhört. Und man wusste, dass es besonders an psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungskapazitäten mangelte.

Lesen Sie hier: Eltern, Jugendliche und Kinder in der Corona-Zeit

Dann kam der erste Lockdown.

Und spätestens im Frühsommer 2020 war klar, dass dieser Lockdown die Kinder sehr belastet hatte. Auch das ignorierte die Politik – und verhängte im Dezember 2020 den zweiten Lockdown, schloss erneut Schulen und Kitas, um festzustellen: Psychologische Hilfe für junge Menschen? Gibt es viel zu wenig – wir können den durch die Pandemie-Politik besonders belasteten Kindern und Jugendlichen oft gar nicht helfen. Das verletzt das Recht der Kinder auf seelische Gesundheit gleich mehrfach. Und dieses Muster wiederholt sich – in der Bildung, bei Einrichtungen zum Schutz des Kindeswohls und so weiter.

Experten befürchten, dass die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist. Wie weit sind wir mit den Lehren aus der Corona-Zeit gekommen?

Wenn ich mir die vergangenen Jahre anschaue, wurde noch nicht mal ausreichend versucht, die negativen Folgen von Corona zu überwinden. Die Kosten für die Pandemie haben wir sozialisiert, während die Aktienkurse, Dividenden und Vermögen zugenommen haben. Einrichtungen, die für Kinder wichtig sind – Jugendämter, Kinderkliniken, Schulen – sind nicht systematisch gestärkt worden. Ich bezweifele leider, dass wir Lehren im Sinne der Kinder gezogen haben.

Ein Gedankenspiel: Es kommt zu einer neuen Pandemie, diesmal aber sind besonders Kinder von schweren Verläufen betroffen, es drohen viele Tote. Erwachsene dagegen erkranken meist nur mild. Wie würden Gesellschaft und Politik reagieren?

Ich habe überlegt, dieses Gedankenspiel auch in meinem Buch zu behandeln. Das ist eine sehr gute Frage, weil sie provoziert – aber ich schrecke vor einer Antwort zurück.

Produktinfo

Christoph Schickhardt, "Nicht systemrelevant – Eine Aufarbeitung der Corona-Politik aus kinderethischer Sicht", ISBN 978-3-518-47265-1, 175 Seiten, 18 Euro

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